Sprintstar Marcel Kittel steht für die neue Generation im deutschen Radsport: jung, lässig, redegewandt – und sauber

Hamburg. Das Gelbe Trikot liegt bei Marcel Kittel noch im Schrank. Er wollte es längst ausgepackt und aufgehängt haben, und er kann sich nicht einmal damit herausreden, keine Zeit dafür gehabt zu haben. Denn Kittel, 26, hatte Zeit, was selten genug vorkommt. Nach den üblichen Tour-de-France-Nachwehen, dem Schaulaufen bei kleineren Kriterien durch Belgien und die Niederlande, hat er ein paar Tage zu Hause in Erfurt verbracht. Und er hat Dinge getan, die Radprofis für gewöhnlich nicht tun: „Freunde treffen, ausgehen, auch mal ein Bier trinken. Die Zeit habe ich sehr genossen.“

Die Frage, ob er sich das verdient hat, stellt sich nicht. Kittel hat von der Tour nicht nur ein Gelbes Trikot mitgebracht, das der Auftaktetappe, er hat wie schon im Vorjahr vier Tagessiege ersprinten können, darunter den am Schlusstag auf den Champs-Élysées. Die Frage ist vielmehr, ob Kittel diese Form der Ablenkung gebraucht hat. Er hat. Der Körper erhole sich ja relativ schnell von den Strapazen von 3660,5 Kilometern. „Aber wichtig ist, dass sich der Kopf erholt, damit die Motivation zurückkommt.“

Jetzt, nach einer kleinen Rundfahrt in Norwegen, sei sie aber wieder da. Geholfen hat sicherlich, dass am Sonntag die Vattenfall-Cyclassics anstehen, das einzige deutsche Rennen auf der UCI World Tour, der ersten Liga des Radsports. Kittel hat es noch nie gewinnen können. Die Strecke ist wie für ihn gemacht: lang und flach, keine schweren Anstiege. Nur der Waseberg, der viermal zu bezwingen ist, sei etwas unwägbar: „Mit 200 Kilometern in den Beinen kann er schon wehtun.“

Was sonst noch zu beachten ist, wollte Kittel noch auf dem Wege einer Kurznachricht „beim Johnny“ erfragen: seinem Teamkollegen John Degenkolb, der im vergangenen Jahr in Hamburg gewinnen konnte und diesmal bei der Spanien-Rundfahrt Etappensiege für Giant-Shimano einfahren soll.

Auf Profis wie Degenkolb, 25, und Kittel gründet sich der Glaube, dass es im hiesigen Radsport auch noch einmal gute Zeiten geben könnte. Sportlich waren die nie besser. Bei der Tour de France gingen sieben der 21 Etappen an deutsche Pedaleure – vier an Kittel, zwei an Tony Martin, eine an André Greipel, der auch in Hamburg zu Kittels Widersachern gehört. Dazu kamen noch zwei zweite Plätze durch Degenkolb. Eine solche Erfolgsquote hat es in 100 Austragungen zuvor nicht gegeben, selbst unter Zuhilfenahme von Dopingmitteln.

Und doch wird Kittel im Ausland immer noch häufiger erkannt als in seiner Heimat. „Die deutschen Rennfahrer sind im Moment unheimlich erfolgreich“, sagt Kittel. Was diesem Land fehle, seien Menschen, die den Mut hätten, dieses Potenzial auszuschöpfen: ein Sponsor, der ein Team gründet; ein überregionaler Fernsehsender, der den Radsport zurück in die Wohnzimmer bringt; ein Veranstalter, der eine neue Rundfahrt ins Leben ruft oder eine alte wieder belebt.

„Das ist wohl ein Teufelskreis“, sagt Kittel. „Ich bin aber überzeugt, dass ein Sponsor, der diese Chance erkennt, am Ende dafür belohnt werden wird.“ Es sind ja nicht nur die sportlichen Erfolge, die sich vermarkten ließen: Kittel und Degenkolb sind Typen mit Popstar-Potenzial, jung, smart, modebewusst gekleidet, zeitgemäß frisiert und obendrein noch ausgesprochen redegewandt. Ihr gemeinsames Ziel ist, dem Radsport aus der Krise zu verhelfen, und sie haben erkannt, dass die Flucht nach vorn dafür der richtige Weg ist.

Mit Marcel Kittel darf man nicht nur über Doping reden, man soll es sogar: „Ich bin dankbar für diese Fragen, weil man so in den Dialog kommt und seine Meinung artikulieren, auch den Entwicklungsstand abfragen kann. Und mein Eindruck ist, dass es sich in den vergangenen Jahren von einer sehr ablehnenden Haltung hin zu einem konstruktiven Austausch entwickelt hat.“

In den Statistiken der deutschen Tour-Etappensieger hat Kittel jetzt Jan Ullrich (sieben) überholt, nur Erik Zabel (zwölf) liegt noch vor ihm. Als Vorbilder taugen die beiden zwar nicht mehr, aber Marcel Kittel glaubt trotzdem, dass sie etwas zur Läuterung einer ganzen Sportart beitragen können: „Ich sehe die Verantwortung der überführten Doper darin, für Aufklärung zu sorgen und mit ihrem Wissen den jungen Sportlern dabei zu helfen, dass so etwas nie wieder passiert.“

Der Radsport sei auf diesem Weg schon ein gutes Stück vorangekommen, vielleicht könne er sogar zur Blaupause für andere Sportarten werden, deren Reinigungsprozess noch bevorsteht. Kittel sagt: „Ich bin sehr stolz darauf, dass der Radsport die kritischsten Fans hat. Die letzten Jahre waren sehr hart, es wurde reiner Tisch gemacht, der Prozess ist auch nicht abgeschlossen.“ Vieles habe sich getan. Kontrollen wurden verbessert, die No-Needle-Policy verbietet jegliche Spritze ohne medizinischen Zweck, der Biologische Pass wurde eingeführt, um Abweichungen im Blut- und Urinprofil feststellen zu können. Und jugendliche Sportler würden behutsam aufgebaut und müssten sich nicht so früh mit den Besten messen.

Kittel wünscht sich noch mehr: ein Anti-Doping-Gesetz, lebenslange Sperren für Dopingsünder. „Das wäre schon eine große Hemmschwelle. Aber klar ist auch: Es wird immer Betrüger geben, nicht nur im Sport, auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Damit muss man umgehen.“ Bis auf Weiteres habe er es zu akzeptieren, dass der geständige Italiener Ivan Basso gerade vom Team Tinkoff-Saxo verpflichtet wurde und künftig neben ihm herrollen wird.

Marcel Kittel hat es sich zur Aufgabe gemacht, auf zwei Ebenen zu kämpfen: der politischen und der sportlichen. Der politische Kampf ist kein Sprint, eher eine lange Rundfahrt, auf der es noch manche Schwierigkeiten zu überwinden gilt. Marcel Kittel käme trotzdem nicht auf die Idee, damit zu hadern, dass er sein Informatikstudium abgebrochen hat, als ihm ein Profivertrag angeboten wurde. Ganz im Gegenteil: „Ich freue mich jeden Tag, die Welt vom Fahrrad aus zu sehen. Wir Profis müssen doch jeden Tag dankbar dafür sein. Wir kommen durch die Welt. Dafür bezahlen andere viel Geld.“

Hamburg zum Beispiel. Kittel war zuletzt im Oktober hier, privat, um sich diese „Weltstadt“ anzuschauen, als die er sie empfindet. Und auch das Rennen ist ganz nach seinem Geschmack. Hier kann er seine Stärke ausspielen, den Antritt, dem zuletzt kaum einer folgen konnte. Kittel genießt diesen finalen Nervenkitzel: „Es macht einfach Spaß. Erst die Teamarbeit, die dazugehört, und dann die letzten 1000 Meter, wo richtig gekämpft wird. Wenn man dann als Sieger die Ziellinie überquert, ist es ein ganz spezieller Moment.“

Gefährlich? „Vielleicht ist es bekloppt, mit Tempo 70 rumzuheizen. Das Risiko ist uns allen bewusst. Aber wir sind auch keine blinde Herde, die aufs Ziel zustürmt, sondern Profis, die wissen, was sie zu tun haben.“