HSV-Weitspringer Sebastian Bayer startet bei der Leichtathletik-EM als Titelverteidiger, aber auch mit Fragezeichen

Zürich. Sebastian Bayer ist beim Telefoninterview in dieser Woche kurz abgelenkt. „Moment, David Storl hat gerade gestoßen ... Oooh, wie weit? Ich muss kurz auf den Fernseher gucken – ich bin ein Mann, ich kann nicht beides gleichzeitig.“ Es herrscht gelöste Stimmung im Hotelzimmer 386 im Hilton Zürich Airport, wo Bayer diesmal nicht mit seinem langjährigen Zimmerkumpel „Storli“ wohnt, sondern mit dem dritten deutschen EM-Weitspringer Julian Howard. Der gibt im Hintergrund den launigen TV-Kommentator.

Vielleicht ist der HSV-Weitspringer Bayer, der als EM-Titelverteidiger doch eigentlich mit so vielen Zweifeln antritt, deswegen so gelöst, weil sich endlich in seinem Rücken etwas gelöst hat: eine Nervenblockade im Lendenwirbelbereich, die ihn im Juli plötzlich heimsuchte und so fies in den Beuger ausstrahlte. „Ich konnte nicht frei laufen und auch nicht frei abspringen“, erinnert sich der 28-Jährige. Es spricht für ihn, dass er um die Verletzung keinerlei Getöse machte, er machte sie nicht einmal öffentlich, als man sie wunderbar hätte anführen können als Entschuldigung für seine indiskutablen 7,62 Meter bei den deutschen Meisterschaften in Ulm, die nur zu Rang fünf reichten.

Bayer zog daraus die Konsequenz, dass er direkt aus Ulm in seine Geburtsstadt Aachen zum Nationalmannschaftsphysiotherapeuten weiterfuhr – und die Blockade dort umgehend wegtherapiert wurde: „In den letzten zwei Wochen ging es Tag für Tag nach vorne.“ Ob er nun bei 100 Prozent sei? „Joa“, mit so einer Formulierung ist er lieber vorsichtig. Diese Verletzung diesmal war besonders ärgerlich, denn „bis zum Juni war alles perfekt“, wie Bayer sagt. In der Vergangenheit erlebte er schon holprigere Vorbereitungen. Auch sein Coach Uwe Florczak, zugleich der leitende Männerbundestrainer, bedauerte, dass Bayers Zubringerleistung bis dahin so gut wie eh und je gewesen sei. Ähnlich wie 2012, als er in Helsinki mit 8,34 Metern seinen EM-Titel feierte – oder als er Halleneuropameister wurde: 2009 in Turin (mit 8,71 Metern!) und 2011 in Paris. Und auch nicht schlechter als bei jenem explosiven Springer, der vor fünf Jahren in Ulm mit 8,49 Metern seine Freiluftbestweite aufstellte.

Bayer gilt als cooler Wettkampftyp. Schielt er doch auf die Titelverteidigung? „Das sind Traumvorstellungen. Ich bin eher Realist“, sagt er entspannt. Er hat schließlich recht, wenn er meint: „Die Konkurrenzsituation in Europa ist so stark wie vielleicht noch nie.“ Die zwei Topfavoriten sind für ihn der britische Olympiasieger Greg Rutherford und sein deutscher Konkurrent Christian Reif. „Beide springen in diesem Jahr beständig sehr weit.“ Bayer sagt das respektvoll über Reif, mit dem er wohl nie echte Freunde werden wird, aber dem er sich angenähert hat. Er zählt sich zu zehn weiteren Athleten, die um die Medaillen mitspringen. „Jetzt muss ich erst einmal gut durch die Quali kommen.“ Der Vorkampf steigt am Freitag um 19.30 Uhr im legendären Letzigrund. Und was sagt er noch zur Causa Markus Rehm? In Ulm hatte er über den Sensationsmeister mit Handicap ausgesprochen, was viele nur dachten („Die Prothese sieht gefühlte fünfzehn Zentimeter länger aus als das andere Bein“). Nun meint er: „Generell ist über das Thema schon viel geredet worden. Ich bin froh, dass wir uns jetzt wieder auf die Leichtathletik konzentrieren.“

Allgemein wirkt @SebBayer, so sein Twitter-Name, offen und optimistisch. Dabei hätte er Grund zu klagen, ist doch seine HSV-Zukunft nach der Ausgliederung der Fußballprofis ungewiss. Sein Vertrag läuft Ende September aus. „Ich hoffe, dass es so weitergeht wie bisher. Natürlich ist die Situation gerade nicht optimal für die Planung. Gerade, wenn man im Januar erst den Umzug nach Hamburg gemacht hat. Auf der anderen Seite ist es etwas Besonderes, als Leichtathlet mit der Raute zu starten!“ Carl Jarchow, Präsident des HSV e. V., richtete aus dem Dänemark-Urlaub aus, es gebe „fixe Gesprächstermine“. Er lehnte sich für seine Verhältnisse weit aus dem Fenster: „Natürlich ist er unser erfolgreichster Leichtathlet. Außerdem lebt er ja mittlerweile auch in Hamburg und bringt sich sogar in die Nachwuchsarbeit ein.“ Der Verein kann sich kaum leisten, seinen Vorzeigeathleten gehen zu lassen. Zumal Bayer sich nach der schwierigen Wohnungssuche nun in Hamburg-Ohlsdorf „sehr, sehr wohlfühlt“. „Auch wenn es noch Adressen gibt, wo ich mit dem Navi hinfahren muss.“ Er weiß aber auch: Eine Medaille wäre ein Argument in eigener Sache.