Nikias Arndt aus Seevetal steht für die neue Radsportgeneration. Er will auch Vorbild sein

Seevetal. Die Erinnerungen an sein letztes Rennen werden Nikias Arndt noch eine Weile begleiten. Er streckt seine Hände vor, sie sind voller Schwielen und Wunden. Aber das sei gar nichts, verglichen mit dem Hinterteil: „Der war völlig wund gescheuert.“ Die normalen Nebenwirkungen eben, mit denen man als Radprofi rechnen bei einem Rennen wie Paris–Roubaix. Arndts Fahrrad hat es härter erwischt: Erst war es nur ein Platten, wie ihn fast jeder bekommt auf den mehr als 50 Kilometer langen Kopfsteinpflasterpassagen Nordfrankreichs. Später dann, als er eine Verkehrsinsel überfuhr, brachen auch noch Vorder- und Hinterrad.

„Trotzdem war es vielleicht das schönste Rennen der Saison“, sagt Arndt. Obwohl er erst als 100. auf die Zielrunde im Radstadion einbog, hätten ihn die Zuschauer gefeiert wie einen Sieger, „daran merkt man, dass der Radsport dort gelebt wird“. Aber was viel wichtiger sei: dass er John Degenkolb, seinem Freund und Kapitän beim Team Giant-Shimano, zum zweiten Platz verholfen hat. Da kann man schon guten Gewissens einmal für eine Woche die Beine hochlegen, bevor sie am 1. Mai beim Eintagesklassiker Rund um den Finanzplatz Eschborn-Frankfurt wieder gebraucht werden.

Es ist das erste Mal seit bald einem halben Jahr, dass Arndt einmal wieder zu Hause ist. Wobei nicht so leicht zu beantworten ist, wo das eigentlich ist: zu Hause. Im September ist er zu seiner Freundin nach Bonn gezogen. In Cottbus, wo er das Abitur gemacht hat, leben die meisten seiner Freunde, in Maschen und Buchholz, wo er seine Kindheit verbracht hat, die Eltern.

Nikias Arndt, 22, hat früh gelernt, sich woanders zurechtzufinden. Er war kaum 13, als er an die Lausitzer Sportschule Cottbus wechselte. Ein Sichtungstrainer hatte ihm den Platz angeboten. Michael Gaumnitz, sein Jugendtrainer bei der RG Hamburg, brauchte Arndt nicht lange zu überreden: „Ich war begeistert von den Möglichkeiten am Internat. Überall Sportler, der Stundenplan voll auf das Training abgestimmt, das war mein Ding.“

Nur zwei von 15 Nachwuchsfahrern seiner damaligen Trainingsgruppe haben den Sprung ins Profilager geschafft. Dass Arndt einer der beiden ist, wundert Wolfgang Strohband nicht: „Nikias wurde bei uns systematisch aufgebaut“, sagt der Vorsitzende der RG Hamburg und frühere Jan-Ullrich-Manager, „und er ist einer, der für den Radsport lebt.“

Für Olympia in Rio kann sich Arndt eine Rückkehr auf die Bahn vorstellen

Mittlerweile kann Arndt auch vom Radsport leben, ganz gut sogar. Private Sponsoren habe er zwar nicht. „Aber man kann bei einem Profirennstall immer noch ordentliche Verträge bekommen.“ Sogar in Deutschland wächst nach dem Doping-Flächenbrand wieder ein gewisses Interesse heran. Es heftet sich ans Hinterrad von Spitzenfahrern wie dem Cyclassics-Gewinner Degenkolb und den Tour-de-France-Etappensiegern Marcel Kittel und André Greipel. Diese neue Generation duckt sich vor dem Thema Doping nicht mehr weg, sie hat klar dagegen Position bezogen.

Nikias Arndt merkt, wie das Vertrauen in den Radsport langsam zurückkehrt, auch bei ihm selbst. Er sagt: „Ich lege für niemanden die Hand ins Feuer. Aber ich weiß, dass ich nichts nehme und trotzdem gut mitfahre.“ Sein dritter Platz auf der Schlussetappe der Spanienrundfahrt 2013 wäre früher ohne medizinische Hilfe vielleicht nicht möglich gewesen. Das spreche dafür, dass das Kontrollsystem funktioniere. Rund 15-mal ist Arndt allein in diesem Jahr bereits überprüft worden. Einen Testrhythmus, auf den sich Betrüger einstellen könnten, gebe es nicht.

Arndts niederländischer Rennstall gehört zu den Mitgliedern des MPCC, einer Arbeitsgruppe für sauberen Radsport. Arndt sagt: „Wir wollen auch Vorbild für die Nachwuchsfahrer sein.“ Im Grunde ist er selbst noch einer. Bei der Vuelta war er der jüngste Fahrer im Feld. Trotzdem entbänden sie ihn bei Giant-Shimano gelegentlich bereits von seinen Helferausgaben und ließen ihn auf Sieg fahren. Eifersüchteleien gebe es nicht, weil die Mannschaft ohne eingekaufte Stars, gleichsam aus eigener Kraft zu einer großen geworden sei. Das habe den Zusammenhalt gestärkt: „Wir sind im Team wie eine Familie, in der jeder dem anderen hundertprozentig vertraut“, sagt Arndt, „und wir pflegen unsere Freundschaft auch privat.“

In Frankfurt wird Arndt aber nicht gewinnen dürfen, schon weil es Degenkolbs Heimrennen ist. Bei den kleineren Rundfahrten danach könnte dann seine Chance kommen. Und bei der Vuelta, die er wieder als Saisonhöhepunkt angepeilt hat und derentwegen er schweren Herzens auf die Cyclassics verzichten muss. 2015 will er dann zum Kader für die Tour de France gehören. Es wird nicht leicht: „Wir sind 28 Fahrer im Team, davon wollen 20 zur Tour.“ Aber nicht alle sprintstarken Fahrer schaffen es so gut über die Berge wie er. Und bei den Zeitfahren kommt Arndt seine Erfahrung auf der Bahn zugute.

So ganz kann er von seiner alten Liebe zum Bahnradsport nicht lassen. 2012 verpasste er mit dem deutschen Vierer die Olympischen Spiele knapp. 2016 gäbe es in Rio eine neue Chance. Ob er es versuchen will, muss er bald entscheiden. „Wenn ich das wirklich wollte“, sagt Nikias Arndt, „dann würde ich es auch schaffen.“ Kopfsteinpflaster bliebe ihm jedenfalls erspart.