Der japanische Skispringer Noriaki Kasai gewinnt Silber, aber vor allem die Herzen von Fans und Kollegen

Sotschi. In der Stunde seines größten Sieges, als er endgültig zum Nationalhelden Polens aufgestiegen war und Hunderte polnische Schlachtenbummler johlend ihren Heimweg antraten, wirkte Skisprung-Doppelolympiasieger Kamil Stoch wie ein kleiner Junge. Fast ehrfürchtig saß er da und blickte nach rechts zu einem Mann, der Unglaubliches vollbracht hatte. „Es ist solch eine Ehre, neben Noriaki zu sitzen. Er ist ein großartiger Mensch, ein großer Sportler“, sagte Stoch über den nimmermüden Japaner Kasai, der mit Silber von der Großschanze endgültig zur Legende aufgestiegen war. Kasai musste 41 Jahre alt werden und zum siebten Mal zu Olympischen Spielen fahren, um sich seinen Traum von einer Einzelmedaille zu erfüllen – 20 Jahre nach Olympiasilber mit dem Team.

Kasai ist ein Phänomen. Oder mit den Worten von Peter Prevc, Olympiadritter von der Groß- und Zweiter von der Normalschanze: „Ich habe riesigen Respekt vor ihm. Er ist eine Inspiration für mich“, schwärmte der 21 Jahre alte Slowene. Bei so viel Lob wurde der Grandseigneur der Schanzen ganz verlegen. Welch hohes Ansehen Kasai in der Skisprungszene, bei Fans und Medien genießt, verdeutlichte der Sonnabendabend. Die Hoheit an den Schanzen haben seit Jahren die enthusiastischen polnischen Fans. Diesmal konnte ihnen die breite Masse Paroli bieten. Den höchsten Ausschlag in der Lautstärke fabrizierte gewiss der Russe Dimitri Wassiljew, doch gleich danach folgte Kasai, dicht dahinter Stoch.

Sie lieben ihn, diesen unermüdlichen Flieger aus Japan, der nie aufgab, im Stillen weiterarbeitete, als nichts mehr ging. Und der in dieser Saison alle verblüffte. „Ich hoffe, dass ich mit meiner Medaille anderen Menschen Mut machen kann“, sagte Kasai. „Du darfst nie aufgeben. Setze dir Ziele. Tue das, was du liebst. Wenn du so lebst, ist alles machbar und das Leben lebenswert.“

Dieser Mann lässt niemanden kalt. Auch die Trainer und Athleten anderer Nationen fieberten mit, als Kasai als Zweiter des ersten Durchgangs abhob. Dann kam Stoch. Im Stadion war es still, alle blickten auf die Anzeigetafel. Auf dem Trainerturm gesellten sich zwei Kollegen zu Japans Trainer und legten ihm ihre Hand auf die Schulter, sie zitterten mit. Es war keine Geste gegen Stoch – der Pole ist hoch angesehen, sympathisch und als Athletensprecher engagiert –, es war eine Geste für einen Skisprunghelden. Platz zwei trübte die Stimmung der nicht polnischen Fans nur kurz: ein verdienter Sieger, ein erstklassiger Zweiter.

Für die Fans und Journalisten aus Japan war es fast schon eine nationale Angelegenheit. Nach Erdbeben und Reaktorkatastrophe wirken sportliche Erfolge in ihrer Heimat wie ein Hoffnungsschimmer im Grau des Alltags. Noch am Morgen danach schwärmten die japanischen Journalisten: „Das war groß, das war historisch.“

Das war es freilich auch für Kasai. 1988 gab er sein Debüt im Weltcup – da war Deutschlands Bester, Severin Freund, noch nicht einmal ein Jahr alt. Mit den Jahren wandelte sich Kasais Haarfarbe von Schwarz zu Rot zu Grün zu Gelb bis zum aktuellen Schwarz mit grauen Strähnchen. Mit den Jahren nahmen auch die Verletzungssorgen zu. „Vor 20 Jahren war ich fitter, jetzt bin ich erfahrener“, sagt er. Aus dem scheuen Athleten von einst ist ein höflich-zurückhaltender, aber aufgeschlossener Sportler geworden, der stets lange und ausführlich alle Fragen beantwortet.

Kasai gewann 16 Weltcupspringen, das erste 1992, letztmals am 11.Januar 2014. Er holte mit der Mannschaft neben Olympia- zweimal WM-Silber, war zweimal Zweiter der Vierschanzentournee – aber die Krönung blieb ihm versagt. Bei den Heim-Spielen 1998 in Nagano fand das Teamspringen ohne ihn statt, Japan holte Gold. Kasai zerbrach fast daran, es wurmt ihn bis heute. „Ich war kurz davor aufzugeben.“

Schlimmer als der sportliche Rückschlag war ein privater. Kurz vor den Spielen war seine Mutter gestorben. „Sie hat mich immer unterstützt. Es war eine schwierige Zeit“, sagte er. So emotional wie in den Stunden nach seinem Olympiasilber hat sich Kasai selten gezeigt. Es ist erstaunlich, dass er bis zu diesem großen Tag durchgehalten hat. „Ich habe die Enttäuschungen genutzt, um noch stärker zu werden“, sagte er. Dann dachte er wieder an seine Familie in Japan. An die verstorbene Mutter, seinen Vater und seine beiden Schwestern. Kumiko liegt im Krankenhaus. Sie litt an aplastischer Anämie, einer Sonderform der Blutarmut. Nach einer Transplantation von Nabelschnurblut ging es ihr besser. Jetzt hat sie eine Lungenentzündung. „Ich hoffe, sie fühlt sich etwas besser, wenn sie von meiner Medaille hört“, sagte ihr Bruder.