Der Österreicher Thomas Morgenstern erzählt vor dem Skispringen am Sonnabend, wie er mit der Angst umgeht

Sotschi. Nachdenklich ist Thomas Morgenstern geworden, ruhiger. Sportliche und private Krisen haben beim Skisprung-Olympiasieger von 2006 ihre Spuren hinterlassen, vor allem der schwere Sturz beim Skifliegen vom Kulm vor fünf Wochen. Dass der 27 Jahre alte Österreicher überhaupt im kleinen Hotel Déjà-vu im russischen Bergdorf Krasnaja Poljana sitzen kann, grenzt an ein Wunder. Morgenstern, in grauer Trainingshose, T-Shirt und mit rot-weiß-roten Hausschuhen, hat das Unmögliche geschafft. Er lag nach dem Sturz mit einer Lungenquetschung und Schädelverletzungen auf der Intensivstation. Doch zum Auftakt der Olympischen Spiele sprang er wieder. Auf der Normalschanze belegte er Platz 14, an diesem Sonnabend (18.30 Uhr) folgt der Wettbewerb von der Großschanze, am Montag das Teamspringen.

Hamburger Abendblatt:

Herr Morgenstern, ist es für Sie ein Geschenk, hier zu sein?

Thomas Morgenstern:

Es ist mehr als ein Geschenk. Es ist etwas extrem Schwerwiegendes geschehen, und ich bin dankbar dafür, dass mir nichts Schlimmes passiert ist, dass ich noch am Leben bin. Für mich ist es ein Wunder, dass es mir nach dem schweren Sturz so gut geht, ich nur wenig Schmerzen habe und konkurrenzfähig bin.

Was tut Ihnen noch weh?

Morgenstern:

Ich habe nach dem Schlafen ziemliche Nackenschmerzen. Morgens knackt mein Nacken, jedoch nicht wie bei jemandem, der einfach verspannt ist. Aber das ist mittlerweile eine Lappalie, die sich über den Tag verbessert. Beim Springen habe ich keine Probleme.

Haben Sie den Sturz wirklich schon verarbeitet? Es ist gerade fünf Wochen her.

Morgenstern:

Nein, die wirkliche Verarbeitung kommt erst nach den Winterspielen. Die vergangenen vier Wochen waren anstrengend, ich hatte immer das große Ziel der Olympiateilnahme vor Augen, wollte unbedingt hierher kommen. Die Winterspiele sind ein großartiges Event, damit verbinde ich viel Herz, Leidenschaft und Schweiß. Das hat mir extrem geholfen, wieder fit zu werden. Ich hätte im Krankenhaus liegen und in Selbstmitleid versinken können. Dann hätte ich die Therapie aber nie in dieser Weise durchgezogen. Es geht mir im Moment ganz gut, aber ich spüre einen gewissen Spannungsabfall, seit ich hier bin. Ich weiß, das klingt blöd.

Zumindest sonderbar. Schließlich sind wir hier bei Olympischen Spielen.

Morgenstern:

Bis zum Abflug musste ich täglich Vollgas geben. Jetzt habe ich viel Zeit – Zeit zum Nachdenken. Ein Spannungsabfall bei Olympischen Spielen – ja, das klingt irgendwie seltsam. Aber das zeigt mir, dass ich viele Dinge noch nicht verarbeitet habe.

Welche Gedanken schleppen Sie mit sich herum?

Morgenstern:

Ich bin keine Maschine, bei der auf Knopfdruck alles so ist, wie es vorher einmal war. Das Geschehene spielt im Unterbewusstsein mit und arbeitet im Hintergrund. Es ist klar, dass es Zeit braucht, bis die Sicherheit im Sprung wieder zurück ist. Ich hatte in Sotschi einige gute Sprünge, aber ich weiß, dass ich mit dem gleichen Sprung ein paar Meter weiter fliegen könnte.

Was wussten Sie noch, als Sie wieder aufwachten?

Morgenstern:

Dass ich Ski gesprungen bin. Und ich wusste, wo ich war. Ich habe mir viele Fragen gestellt. Denn ich wusste: Die Bedingungen waren stabil, es wehte kein Wind, der Stürze herbeiführt, meine Form war gut, und mein System war stabil. Es gab für mich keinen Grund, im Krankenhaus zu liegen. Ich habe mir dann drei Tage nach dem Sturz zusammen mit Alex Pointner (dem Cheftrainer, die Red.) den Sprung angeschaut.

Wie groß war die Überwindung?

Morgenstern:

Einfach war es nicht, aber es war wichtig. Ich lag im Krankenhaus, angeschlossen an verschiedene Geräte, ich wusste nicht, was passiert war – das war das Schlimmste. Das Video des Sturzes hat mir viele Fragen beantwortet. Wieder zu springen, ohne zu wissen, warum ich im Krankenhaus gelandet war – das wäre nicht gegangen. So habe ich eine Erklärung gefunden. Und ich habe gesehen: Ja, das bin tatsächlich ich. Es wird wohl so gewesen sein.

Es war ein Schock, oder?

Morgenstern:

Ja, es war ein Schock, die Bilder zu sehen. Ich habe wirklich keinen Bammel, wenn ich mir Stürze von mir anschaue, aber diesen sehe ich mir nie wieder an. Es war richtig heftig.

Sie hatten Schutzengel. Man kann das Glück auch überstrapazieren.

Morgenstern:

Das ist mir bewusst. Ich weiß, dass ich bei meinen schweren Stürzen extremes Glück hatte. Und ich weiß nicht, ob ich einen ähnlichen Sturz noch einmal überstehen würde. Für mich gab es jetzt dieses große Ziel Olympische Spiele. Das habe ich erreicht, ich war von der Normalschanze dabei. Wenn wieder etwas passiert, dann passiert es. Aber es passiert wenigstens bei dem, was ich am liebsten tue: beim Skispringen.

Fliegt die Angst noch mit?

Morgenstern:

Die Angst spielt bei mir wahrscheinlich mehr denn je eine Rolle. Einen Monat nach einem solchen Sturz zu sagen, ich ginge ohne Angst auf die Schanze, funktioniert nicht. Das wäre gelogen. Die Angst ist ein Teil von mir.