Thomas Morgenstern stürzte im Dezember schwer. Bei der Tournee ist der Österreicher in Topform

Innsbruck. Eine gemütliche Hotelwirtsstube mit Holzbänken, Holztresen und Holzwänden in Kematen bei Tirol: Hier im Rauthhof wird an diesem Mittag nicht über Fußball gefachsimpelt, nein, das Thema ist Skispringen. Die Gäste diskutieren über Windregel und Lukenverschiebung, rätseln über die Form der Deutschen und fiebern dem dritten Springen am Sonnabend im 20 Minuten entfernten Innsbruck entgegen. „Es sind alles bodenständige Burschen“, sagt Helga über die österreichischen Springer. Die erholen sich gerade nur ein paar Meter weiter im dazugehörigen Hotel. „Mein Liebling ist Thomas Morgenstern. Unglaublich, wie er nach dem schweren Sturz zurückgekommen ist.“

Es ist nicht nur unglaublich, sondern die schönste Comeback-Geschichte dieses Winters. Nach sportlichen und privaten Krisen fand Morgenstern im Dezember sein Fluggefühl wieder – und stürzte am nächsten Tag brutal ab. Zweieinhalb Wochen später ist er jetzt vor dem Heimspringen in Innsbruck Zweiter der Gesamtwertung der Vierschanzentournee. Dabei kann er sich seit dem Sturz nicht einmal alleine die Schuhe zubinden. Vom Bruchpiloten zum Tourneefavoriten – diese Geschichte kann nur Thomas Morgenstern schreiben.

Als der 27-Jährige bei den ersten beiden Tourneestationen in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen von der Schanze flog, standen seine Eltern Gudrun und Franz auf der Tribüne und zitterten. Der Vater hatte gar Tränen in den Augen. Sie haben einiges mitgemacht mit ihrem Sohn.

„Wenn er von der Schanze springt, habe ich keine Angst“, sagt seine Mutter, „es sei denn, es sind böige Winde.“ Es sind die Erinnerungen an den Weltcup 2003 im finnischen Kuusamo, die dann hochkommen. Morgenstern wurde damals von einer Bö erwischt. Er überschlug sich in der Luft, fiel vom Himmel und knallte mit dem Rücken auf den eisigen Hang. Wie durch ein Wunder hatte er keine schweren Verletzungen. Und wie durch ein Wunder konnte dieser junge Kerl den Sturz auch mental verarbeiten. Dennoch sagt er auch heute noch: „Der Sturz von damals ist immer noch in meinem Schädel drin.“ Aber er bremst ihn nicht.

Der Kärntner gewann in den Folgejahren alles, was ein Skispringer nur gewinnen kann: Olympia- und WM-Gold im Einzel und mit dem Team sowie die Vierschanzentournee. In den vergangenen beiden Jahren lief es nicht mehr so gut. Und zu allem Übel plagten ihn im vergangenen Winter auch noch Verletzungen.

Und dann trumpfte er doch wieder auf. Sein Weltcupsieg in Titisee-Neustadt am 16. Dezember war die große Erlösung. Nur einen Tag später war die Welt aber wieder eine andere: Morgenstern sprang, landete, stürzte und knallte mit dem Gesicht auf den eisigen Hang. Es sah nicht ganz so brutal aus wie 2003, aber immer noch besorgniserregend. Morgenstern raffte sich auf, torkelte und plumpste wieder zu Boden. Dort blieb er benommen liegen. Später sagte er: „Ich kann mich nur noch erinnern, wie Klitschko zu einem Schlag ausgeholt hat. Danach sind alle Lichter ausgegangen.“ Er ahnte Böses. Doch er hatte Glück – die Diagnose lautete: Cuts und Abschürfungen im Gesicht, Prellungen, ein gebrochener Finger an der linken Hand. Das waren keine Lappalien, aber es hätte deutlich schlimmer kommen können.

An eine erfolgreiche Rückkehr Morgensterns schon während der Vierschanzentournee glaubte aber fast niemand. Zu zerschunden sah sein Gesicht noch kurz vor Weihnachten aus, zu heftig war der Aufprall in Titisee-Neustadt – und überhaupt: Wie kann ein Springer seinen zweiten schweren Sturz so schnell mental verkraften?

Toni Innauer, die österreichische Skisprunglegende, hatte geahnt, wie ungeheuer stark Morgenstern im Kopf sein muss. „Es wird nicht leicht für ihn. Vielleicht gehört er aber nach Oberstdorf schon zu den Topfavoriten.“ Und so war es. Jetzt liegt Morgenstern hinter Überraschungsmann Thomas Diethart (Österreich) auf Rang zwei der Gesamtwertung. Dabei hatte er nach dem Sturz und vor dem Tourneeauftakt keinen einzigen Sprung wagen können.

Aber vielleicht war das genau das Richtige. „Ich hatte andere Dinge im Kopf. Und ich hatte Schmerzen“, sagt Morgenstern. Äußerlich erinnert nur die Spezialschiene an der linken Hand an Titisee-Neustadt. Doch diese Schiene stört gewaltig. Er kann sich nicht vom Bakken gewohnt kräftig mit beiden Händen abstoßen. Nur wenn er fliegt, behindert ihn die Schiene nicht. Schon wenn Morgenstern landet, beginnen die Probleme erneut: Er bekommt die Bindung nicht alleine auf. Und erst der Alltag: „Ich brauche jemanden, der mir die Schuhe zubindet“, sagt der 27-Jährige. Aber er schmunzelt dabei.

Kurz vor Weihnachten hatte er noch gesagt: „Ich habe ein wenig Angst vor dem Springen.“ Jetzt sagt er: „Es ist wichtig, diese Angst zu bekämpfen.“ Das klingt einfacher, als es ist. Doch Morgenstern weiß, dass er es schon mal geschafft hatte. Und damals war alles viel schlimmer gewesen – der Sturz, die Angst, die Erinnerungen. „Ich bin mental stark“, sagt er. „Vielleicht ist mir das auch in die Wiege gelegt worden.“