Am Sonnabend startet die 62. Vierschanzentournee mit der Qualifikation für das Springen in Oberstdorf. Das Abendblatt zeigt die Favoriten. Der heißeste Anwärter auf den Titel ist der Österreicher Gregor Schlierenzauer.

Oberstdorf. Sven Hannawald sollte in den kommenden Tagen ruhig schlafen können – im Gegensatz zu den Skisprungfans aus Österreich. Die gute Nachricht, die aber alle eint: Die kommende Vierschanzentournee, die diesen Sonnabend mit der Qualifikation in Oberstdorf beginnt (16.20 Uhr, live im Ersten und auf Eurosport), verspricht so viel Spannung wie lange nicht mehr. Sechs verschiedene Saisonsieger bei acht Weltcupspringen – für Deutschlands Skisprunglegende Hannawald bedeutet das: Die Chancen, das sein Rekord von vier Siegen bei allen vier Springen der Tournee gebrochen wird (2001/02), tendieren gen null. Für die erfolgsverwöhnten Skisprungfans aus Österreich heißt das: Nachdem fünfmal in Folge einer ihrer Lieblinge die Gesamtwertung gewann, ist die Wachablösung möglich. „Die Gefahr besteht“, sagt der Österreicher Toni Innauer (53), Olympiasieger von 1980. Und das sind die Favoriten der 62. Vierschanzentournee:

Gregor Schlierenzauer (Österreich)

An dem wohl größten und talentiertesten Skispringer aller Zeiten führt einfach kein Weg vorbei. Für Hannawald und Innauer ist er der Topfavorit, auch wenn er in dieser Saison bisher die Dominanz und Leichtigkeit des vergangenen Winters vermissen lässt. Und dennoch gewann er bereits zwei Springen und steht auf Rang zwei des Gesamtweltcups. „Der Weg wird über Gregor führen, aber er gefällt mir derzeit nicht ganz so gut“, sagt Innauer über jenen Mann, der die Tournee zuletzt zweimal in Folge gewann. „Er ist im Sprung nicht ganz so überzeugend und sucht nach irgendetwas, das ihm die Bestätigung gibt, dass es optimal laufen könnte. Er schwankt wie zuletzt in Engelbern noch zwischen genial und erstaunlich menschlich.“ Eines darf niemand beim Thema Gregor Schlierenzauer vergessen: Der Kerl mit dem Faible für Fotografie ist erst 23 Jahre alt. Und niemand ist so hungrig auf Erfolg wie er.

Kamil Stoch (Polen)

Der Schatten des großen Adam Malysz war riesig, er drohte Kamil Stoch zu erdrücken. Doch anstatt sich hinter dem Idol seines Heimatlandes zu verstecken, schöpfte Stoch Kraft und Inspiration aus Malysz’ Erfolgen. Dass der 26-Jährige derzeit den Gesamtweltcup anführt, ist keine Überraschung. Stoch zeigt schon länger, dass er für Großes bereit ist. Im vergangenen Jahr holte er sich die Belohnung ab und siegte bei den Weltmeisterschaften in Val di Fiemme/Italien von der Großschanze. Es war ein Triumph für sich und die polnischen Fans, die seit Jahren die dominierende Macht an den Schanzen Europas sind – einmal abgesehen von den Weltcups in Deutschland und Österreich. Polen wartet auf einen neuen Helden in der Ära nach dem viermaligen Weltcupgesamtsieger Malysz. Stoch hat das Zeug dazu.

Anders Bardal (Norwegen)

Der Volksmund sagt: Norweger werden mit Skiern an ihren Füßen geboren. Die Rede ist allerdings von Langlaufskiern. Und dennoch zählt auch Springen zu einer der großen Traditionssportarten in Bardals Heimatland. Der letzte norwegische Tourneesieger war Anders Jacobsen 2006/07 – nicht nur deshalb ist es für Bardal an der Zeit. Mit seinen 31 Jahren ist er der Routinier unter den Topfavoriten und der Ruhepol im norwegischen Team. Bardal avancierte erst mit dem Alter zum Top-Skispringer und größten Hoffnungsträger seines Landes. 2011/12 siegte er dann im Gesamtweltcup; jetzt steht der Vater zweier Kinder auf Position drei – obwohl er nicht an allen Wettbewerben dieser Saison teilnahm. „Bardal könnte ein gewichtiges Wort mitreden. Er wird eine stabile Kenngröße sein“, sagt Werner Schuster, Bundestrainer der Deutschen.

Severin Freund (Deutschland)

Dieser 185 Zentimeter große und 25 Jahre junge Mann ist Deutschlands Hoffnung Nummer eins. Freund weiß, wie es geht. Er ist ein harter und akribischer Arbeiter. Und er gewann in diesem Winter bereits einen Weltcup, seinen fünften insgesamt. Im Gesamtweltcup liegt er derzeit auf Platz vier. Freund hat die Tücken der Vierschanzentournee mit ihrer besonderen medialen Beachtung und dem großen Erwartungsdruck kennengelernt; er weiß, dass er niemanden mehr fürchten muss. „Ich bin weiter als im Vorjahr“, sagt er. „Severin ist unsere heißeste Aktie“, sagt Bundestrainer Werner Schuster. Und deshalb wollte Freund über Weihnachten wenigstens für ein paar Momente alles vergessen – das Skispringen, die Erwartungen und sein Studium International Management ins Ansbach. „Skispringen und alles andere beiseite – Erholung“, war sein Motto.

Andreas Wellinger (Deutschland)

Zugegeben: Andreas Wellinger als Sieger der Vierschanzentournee wäre eine Sensation. Immerhin ist der Deutsche gerade mal 18 Jahre alt und arbeitet noch auf sein Abitur hin. Der Surffan tauchte im vergangenen Winter sensationell in der Weltspitze auf, musste bei der Tournee aber seinem hohen Anfangstempo und der Unerfahrenheit Tribut zollen. Er ist ein unglaubliches Talent – daran hat niemand einen Zweifel. „Schreibt mir den Andi nicht ab“, mahnte Schuster vor einer Woche in Engelberg nach einem verkorksten Wettbewerb. Am Tag darauf wurde Wellinger Zweiter. Ein super Sprung am ersten Tourneetag – und alles ist möglich. Wie sagte Sven Hannawald. „Überraschungen kann es immer geben. Wellinger und Marinus Kraus haben gezeigt, dass sie die Spitzbübigkeit und Coolness haben, um vorne hineinzuspringen. Wenn dir das einmal bei der Tournee gelingt, kann viel passieren.“ Und Wellinger springt schon konstanter als im Vorjahr.

Thomas Morgenstern (Österreich)

Es gibt sie einfach, diese Skispringer, mit denen fast jeder Zuschauer mitzittert. Völlig unabhängig von der Nationalität. In diesem Jahr zählt an erster Stelle wohl der Österreicher Thomas Morgenstern dazu. Nach einer sportlich wie privat schwierigen Zeit meldete sich der Olympiasieger mit dem Weltcupsieg vor zwei Wochen in Titisee-Neustadt zurück. Am nächsten Tag stürzte er schwer. Morgenstern hatte Glück und kam mit Prellungen, Cuts, Abschürfungen und einem gebrochenen Finger glimpflicher davon, als es ausgesehen hatte. Bei der Tournee will er wieder dabei sein. Mit der Form vor seinem Sturz ist ihm alles zuzutrauen – wenn nur die Schmerzen nicht wären.

Und auch auf diese drei Springer sollten Sie achten: Simon Ammann (Schweiz), Richard Freitag (Deutschland) und Taku Takuechi (Japan).