Wie Abendblatt-Redakteur Frank Best 1987 als Tischtennisspieler von Germania Schnelsen den sensationellen Triumph gegen den VfB Lübeck erlebte

Hamburg. Augenblicke, die eine Karriere prägen. Orte, die man ein Leben lang nicht vergisst. Das Abendblatt bat Sportler, an Hamburger Stätten großer Momente zurückzukehren und sich dort an ihre Vergangenheit zu erinnern.

Sporthalle Wandsbek, Ecke Schädlerstraße, Hintereingang. Genau hier habe ich schon einmal gestanden, an einem ungewöhnlich warmen Frühlingssonntag, vor 26 Jahren und vier Monaten. Mit trockenem Mund, Herzklopfen, schweißnassen Handflächen. Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen …

26. April 1987. Noch zweieinhalb Stunden, dann werden meine fünf Mannschaftskollegen und ich, Frank Best, 22, Sportstudent, in eine Tischtennisschlacht ziehen, wie sie Hamburg noch nicht gesehen hat. Der TuS Germania Schnelsen, mein Team, empfängt den VfB Lübeck. Beide Mannschaften haben in der Saison 86/87 die 2. Bundesliga Nord beherrscht. Unser Gegner ist mit 41:1 Punkten und 188:45 Spielen Spitzenreiter, wir (41:1/188:51) sind Tabellenzweiter.

Im November 1986 haben Colum Slevin, 22, Jochen Leiß, 37, Jens Stolte, 19, Oliver Alke, 16, Günther Kuschmierz, 20, und ich dem haushohen Favoriten in der mit 1100 Zuschauern ausverkauften Lübecker Schwarzbunt-Arena ein 8:8-Unentschieden abgetrotzt. Das bedeutet: Heute geht es um alles oder nichts. Der Sieger der Partie ist Nordmeister, qualifiziert sich für die Bundesliga-Aufstiegsrunde in Hagen. Der Verlierer darf sich bester Zweitliga-Vizemeister aller Zeiten nennen, ein schwacher Trost.

Es wird – das macht die Partie besonders reizvoll – ein Duell zwischen David und Goliath geben. Germania ist im Gegensatz zum VfB Lübeck ein Low-Budget-Team. Jens Stolte, Oliver Alke und ich haben zu Saisonbeginn sogar auf eine Aufwandsentschädigung verzichtet, um die Verpflichtung des deutschen Meisters von 1974, Jochen Leiß, zu ermöglichen. Pro Zweitliga-Partie gibt’s zehn Mark Spesen. Das reicht gerade mal, um beim Mannschaftsessen nicht draufzuzahlen.

Wir haben uns umgezogen, die Beläge frisch auf den Schläger geklebt, beginnen mit dem Aufwärmprogramm. In der anderen Hälfte der Halle absolvieren die Lübecker ihre Lockerungsübungen. Der VfB tritt in Bestbesetzung an, also mit dem sechmaligen Weltmeister Liang Geliang an Position eins. Hinter dem Chinesen spielen Marco Tuve, Jaroslav Kunz, Walter Gründahl, Andreas Borszcz und Joseph Hong. Ab und an treffen sich unsere Blicke, ansonsten gibt es keinen Kontakt. Wozu auch miteinander reden? Jeder hat genug mit sich selbst zu tun.

Einen Tag zuvor haben wir uns mit einem 9:2-Erfolg gegen den Tabellendritten TTS Borsum warmgespielt, die Form stimmt also. Wenn da bloß nicht diese unglaubliche Nervosität wäre. Ich renne vier-, fünf-, sechsmal aufs Klo – die Blase. Dabei könnte ich eigentlich ganz entspannt bleiben. Ich schlage an Position sechs auf, niemand erwartet Wunderdinge von mir. Meine Vorhand ist gefürchtet, die Rückhand wird belächelt. Deshalb bin ich auch nur ein einziges Mal Hamburger Einzelmeister geworden, 1977, bei den B-Schülern. Meine Gegner, Borszcz und Hong, haben da ganz andere Erfolge vorzuweisen, sind technisch besser als ich. Doch was zählt das heute schon? Beide stehen unter immensem Druck, zwei Siege gegen mich sind Pflicht. Außerdem gelten in Mannschaftsspielen andere Gesetze als bei Individualwettbewerben.

15 Uhr, auf geht’s! Bei der Einzelvorstellung winke ich verlegen ins Publikum; das Gefühl, im Rampenlicht zu stehen, ist gewöhnungsbedürftig. Ebenso die Kulisse: Die beiden 14 mal sieben Meter großen Boxen, in denen die blauen Tische stehen, sind Inseln in einem Menschenmeer. Auf den Tribünen, der Balustrade vor dem Umkleidetrakt, im Innenraum, überall sitzen und stehen Zuschauer – Gänsehautatmosphäre! Unser Manager Wolfgang Sohns hat 2450 Eintrittskarten drucken lassen, 350 mehr als erlaubt. Erwachsene zahlen zehn, Jugendliche sechs Mark, Ermäßigung gibt’s nicht. Bruttoeinnahme: 20.000Mark.

Der Hexenkessel beginnt zu brodeln. Die Hamburger Fans sind klar in der Überzahl, feuern uns frenetisch an. Nach den Auftaktdoppeln steht es 1:1. Jetzt werden die ersten Einzel aufgerufen. Am Nebentisch spielt Günther Kuschmierz gegen Joseph Hong. Ich treffe auf Andreas Borszcz, den norddeutschen Meister des Jahres 1982, den ich noch nie schlagen konnte und dessen Spielweise mir überhaupt nicht liegt.

Mein Start ist eine Katastrophe, ich finde keinen Rhythmus, liege schnell mit fünf Punkten zurück. Mist, das läuft ja wie immer gegen Borszcz! Mein Lieblingsbetreuer Wolfgang Sohns, der hinter der Begrenzungsbande sitzt und mich unverdrossen anfeuert, bemerkt den Ernst der Lage, verscheucht mit energischen Gesten meine Selbstzweifel, fordert mehr Bewegung. Mit Erfolg. Das Match kippt; ich werde selbstbewusster, denke nur noch positiv, balle nach jeder guten Aktion die Faust, lasse mich von der Begeisterung des Publikums tragen, gewinne den ersten Satz mit 21:18.

Beim Stand von 24:23 im zweiten Durchgang habe ich den ersten Matchball. Doch was nun? Ich verkrampfe, bekomme den berüchtigten „Eisenarm“, habe Angst vorm Gewinnen; ein schreckliches Gefühl in dieser Situation. Aber auch Andreas Borszcz ist nicht locker, er macht einen leichten Fehler. 25:23 für mich, der erste Big Point aus Schnelsener Sicht. Mein Freudenschrei geht im ohrenbetäubenden Getöse der Fans unter – Germania führt mit 3:1.

Als ich zum zweiten Mal ran muss, steht es 6:2 für Germania Schnelsen. Jugendnationalspieler Joseph Hong und ich liefern uns ein Duell auf Augenhöhe: Der erste Satz geht mit 21:19 an mich, der zweite mit 18:21 an meinen Gegner. Im dritten Durchgang liege ich ständig vorn, führe mit 20:16.

Der letzte Ballwechsel. Aufschlag Hong, ein kurzer Return in die Vorhand, der verunsicherte Lübecker gibt mir mit einem halbherzigen Angriffsball die Chance zu einem Vorhand-Topspin – 21:16. Unglaublich: Ich bin über mich hinausgewachsen, habe genau im richtigen Moment das Spiel meines Lebens abgeliefert, ein großartiges Gefühl! Das Publikum tobt, die Zuschauer auf der Haupttribüne trampeln gefühlte fünf Minuten mit den Füßen; 8:2 für Germania Schnelsen.

Die Entscheidung? Nein, denn der VfB bäumt sich noch einmal auf, kommt heran, verkürzt auf 5:8, das Zuschauen wird zur Qual. Dann die Erlösung: Jens Stolte beendet das Zittern, macht mit dem 21:18, 26:24 gegen Jaroslav Kunz alles klar, reißt triumphierend die Arme hoch und fällt auf die Knie, als hätte er soeben das Tennisturnier von Wimbledon gewonnen. Fassungslos vor Glück stürmt der Rest der Mannschaft auf ihn zu. 9:5, wir haben das Unmögliche möglich gemacht; das Wunder von Wandsbek ist perfekt.

Zwei Wochen später steigt Germania Schnelsen mit zwei 9:2-Siegen gegen den TTC Esslingen und die TTSG Wittlich sowie einem 8:8-Unentschieden gegen den Post SV Mülheim in die Bundesliga auf. Bis 1990 hält sich der Club im Oberhaus; anschließend folgt der Rückzug in die Hamburg-Liga, wo die erste Herrenmannschaft auch heute noch spielt.