Jamaikas Sprintstar Usain Bolt gewinnt bei der Leichtathletik-WM erwartungsgemäß die 100 Meter – ohne den Zauber von früher zu versprühen

Moskau. Und dann kam der Regen. Nicht ein bisschen Regen, nein, plötzlich fielen aus dem Moskauer Abendhimmel Wasserschwaden. Just während acht Männer sich in acht Startblöcke kauerten, zum vermeintlichen Höhepunkt des ersten Weltmeisterschaftswochenendes, wenn nicht der ganzen WM. Und während der Regen so fiel und auf der blauen Laufbahn im Nu Pfützen entstanden, bekreuzigte Usain Bolt sich, er blickte hinauf in die Dunkelheit, nahm Position ein, spannte seinen Körper – und rannte nach dem Knall der Startpistole los.

Der Rest war Routine. In mehrerlei Hinsicht. 100-Meter-Gold ging wie erwartet an Jamaikas Titelabonnent, 9,77 Sekunden langten vor Justin Gatlin (USA/9,85) und Nesta Carter (Jamaika/9,95) allemal zum Triumph. Selbst das Feiern anschließend geriet irgendwie routiniert. Ein Winken hier, ein paar Faxen da, und am Ende der Stadionrunde die berühmte Flitzebogen-Geste. Täuscht es, oder sind Bolt-Siege schon einmal mitreißender gewesen? Im Luschniki-Stadion schien jedenfalls niemand ähnlich entrückt wie noch in Peking, Berlin, London – was auch daran liegen mag, dass die kolossale 85.000-Sitze-Arena am Sonntagabend vergleichsweise spärlich besetzt und bei Weitem nicht ausverkauft war.

Noch vor vier Wochen hatte Bolt ja das engste Rennen der vergangenen fünf Jahre gedräut. Die schnellste Zeit der Saison war mit Abstand Tyson Gay (9,75 Sekunden) gerannt, der amtierende Weltmeister Yohan Blake schien ein äußerst ernst zu nehmender Herausforderer, und Gatlin siegte in Rom vor Bolt. Das Ende des Spannungsbogens ist bekannt: Gay sortierte sich mit positiven Dopingtests selbst aus; Blake sagte seinen Start wegen einer Verletzung ab; blieb nur noch Gatlin, der Dicktuer aus Brooklyn. Ihn hatte Bolt in gewisser Weise geadelt: Er nannte Gatlin „lästig“.

„Ich dachte, sie verschieben das Rennen. Echt!“, feixte Gatlin am Sonntagabend, „aber sie wollten hier wohl was Tolles im Regen haben.“ Bolt sagte, der Regen habe ihn nicht gestört: „Ach, Regen ist Regen. Ich kenne das, wir rennen während der Saison ja öfters im Regen, oft auch in Kälte.“

Eine der Befürchtungen immerhin war gewesen, es könnte erneut zu einer so debakulösen Dummheit kommen wie vor zwei Jahren in Daegu. Da huschte Bolt im WM-Finale derart viel zu früh vor dem Knall der Startpistole aus seinem Startblock, dass es fast schon grotesk wirkte. Er wurde disqualifiziert, Blake gewann nach Wiederstart den Titel. Bolt blieben später nur jene über 200 Meter und mit der 4x100-Meter-Staffel.

Nur. Wie das klingt! Aber ist es nicht so, dass Usain St. Leo Bolt aus dem Dorf Sherwood Content in Jamaika stets am Maximalen gemessen werden muss? Schnellster, bester, größter, legendärster, bestverdienendster, unterhaltsamster Sprinter der Welt(geschichte) – das sind die Superlative, die der Schlaks mit dem frechen Mundwerk seit seinem ersten Olympiasieg (von inzwischen sechs) zuverlässig bedient.

Im Englischen heißt es: to deliver. Bolt liefert. Und im Schwelgen über seine Außergewöhnlichkeit ist im Luschniki-Sportpark dann doch einen Moment lang die Depression verdrängt, in der seine Disziplin steckt, seitdem innerhalb von kurzer Zeit in Gay, Asafa Powell, Veronica Campbell-Brown und Sherone Simpson einige der prominentesten Sprinter gedopt aussortiert sind. Die meisten von ihnen aus Jamaika.

Das Publikum steckt in der Zwickmühle. Was und wem soll es noch glauben, auf welche Seite soll es sich schlagen? Auf die von Bolt und den Wissenschaftlern von der Pennsylvania State University etwa, die errechnet haben, dass er zwar die gleiche Schrittfrequenz wie seine Konkurrenten läuft, seine Schritte jedoch um sieben Prozent länger sind? Oder auf jene der Skeptiker, die mäkeln, so könne ja kein normaler Mensch zu laufen imstande sein?

Der Darmstädter Sportsoziologe Karl-Heinrich Bette hat den Zwiespalt im „Welt am Sonntag“-Interview so erklärt: „Die Zuschauer oszillieren, wenn man so will, zwischen Heldenverehrung und Desillusionierung dauerhaft hin und her, ohne zu wissen, auf welche Seite ihrer Einschätzungen und Gefühle sie sich schlagen sollen.“ Mithilfe von Selbsttäuschungen, so Bette, „schützen sich Fans vor der durchaus schmerzhaften Einsicht, dass sie jahrelang den falschen Idolen hinterhergelaufen sind“.

Nicht auszudenken, geriete Bolt ähnlich ins Zweilicht wie Gay und Powell. Für die Leichtathletikwelt des greisen Verbandschefs Lamine Diack („Bolt ist der König der Leichtathletik“) wäre es fatal. Für sie ist Jamaikas Exportschlager auf zwei Beinen Lebensversicherung und Fixpunkt zugleich. In Moskau, in der am gesamten Wochenende nicht annähernd gefüllten Arena, wird Bolt beides bis kommenden Sonntag bleiben, wenn nach den 200 Metern noch das abschließende Staffelrennen ansteht.

Für Diana Sujew war ihre erste WM frühzeitig beendet. Die 22-Jährige vom Lauf-Team Haspa-Marathon Hamburg ging ihren 1500-Meter-Vorlauf couragiert an und bestimmte lange Zeit von der Spitze das Tempo. Doch 200 Meter vor dem Ziel wurde sie vom Feld eingefangen und verpasste in 4:09,40 Minuten als Zehnte den Sprung ins Halbfinale nur um 25 Hundertstelsekunden. „Wenn ich hintergerannt wäre, hätte ich mir vorgeworfen, nichts getan zu haben. So kann ich wenigstens sagen, dass ich alles gegeben habe“, sagte Sujew.