Basketballerin Edina Müller, Hamburgs Sportlerin des Jahres, über ihr Leben im Rollstuhl, ihre sportlichen Wünsche und ihre Träume

Hamburg. „Immer schön die Füße auf der Stütze lassen, sonst tut es weh“, mahnt Edina Müller. Zum ersten Mal probieren die Schüler der Stadtteilschule Süderelbe eine für sie exotische Sportart aus. In Rollstühlen kurven sie über den Sportparcours der Internationalen Gartenausstellung, versuchen die Körbe mit dem Basketball zu treffen. Ihre Trainerin könnte kaum prominenter sein: Edina Müller, 29, holte mit der deutschen Rollstuhl-Basketball-Nationalmannschaft bei den Paralympics in London 2012 Gold. Vom 28. Juni an spielt Hamburgs Sportlerin des Jahres in Frankfurt mit Deutschland um den Europameistertitel. Die letzten Tests spielt sie an diesem Wochenende in Hamburg gegen Kanada. Im Abendblatt spricht sie über ihr Leben im Rollstuhl und ihre Träume.

Hamburger Abendblatt:

Frau Müller, wer glauben Sie, könnte diesen Satz gesagt haben: „Ich habe dann versucht, so wenig zu hadern wie möglich – und mir gesagt: Mach das Beste draus, sonst verdirbst du dir den Rest deines Lebens?“

Edina Müller:

Keine Ahnung, aber wahrscheinlich ein Rollstuhlfahrer.

Richtig, Minister Wolfgang Schäuble, gelähmt seit dem Attentat im Oktober 1990. Wie finden Sie den Satz?

Müller:

Grundsätzlich richtig, aber man sollte jedem nach einem solch tragischen Ereignis Phasen der Wut und der Trauer zugestehen. Es ist ja nun mal ein extremer Einschnitt ins Leben.

Haben Sie gehadert?

Müller:

Nein, in der ersten Zeit kaum. Ich hatte das Ziel vor Augen, so schnell wie möglich wieder selbstständig leben zu wollen.

Ihr Unglück begann mit Rückenschmerzen nach einem Volleyballspiel. Da waren Sie 16. Und völlig gesund.

Müller:

Ja, ich hatte nach einem Spiel Probleme mit dem Rücken. Ein Orthopäde hat versucht, einen Wirbel wieder einzurenken. Und dann hatte ich auf einmal kein Gefühl mehr in den Beinen. Die waren wie eingeschlafen. Meine Eltern haben mich dann in die Klinik gebracht, wo ich Spritzen bekommen habe. Mein Pech war zudem, dass zu diesem Zeitpunkt kein Neurochirurg in Bereitschaft war. Als ich dann 24 Stunden später operiert wurde, war das Rückenmark schon irreparabel geschädigt.

Hat wenigstens die Versicherung des Orthopäden oder der Klinik gezahlt?

Müller:

Nein, es ist auch nicht erwiesen, dass es wirklich ein Kunstfehler war. Meine Eltern haben dann auf eine Klage verzichtet. Der Prozess hätte womöglich Jahre gedauert. Und wir hatten keine Rechtschutzversicherung.

Sie sagen das so rational, so überlegt. Sie müssen die behandelnden Ärzte doch gehasst haben.

Müller:

Solche Gefühle helfen nicht weiter. Ich brauchte all meine Energie für mein Leben. Wir hatten damals zum Beispiel noch eine Wohnung im ersten Stock ohne Aufzug. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, musste meine Mutter immer von der Arbeit rüberkommen und mich dann im Rollstuhl die Treppen hochziehen. Erst zehn Monate später haben wir eine rollstuhlgerechte Wohnung bekommen.

Ihre Mutter wird sich auch sonst sehr um Sie gekümmert haben.

Müller:

Ja, aber sie hat mich nicht betüddelt. Sie hat von Anfang an darauf geachtet, dass ich die Sachen, die ich selbst machen kann, auch selbst mache. Und das war genau richtig. Übertriebene Fürsorge, so nach dem Motto „Mein armes krankes Kind“ führt nicht weiter.

Sie haben auch sofort wieder Sport gemacht.

Müller:

Ja, zunächst Sitzvolleyball. Aber da habe ich gemerkt, dass die Beinamputierten einfach schneller sind. Also bin ich auf Rollstuhl-Tennis und Rollstuhl-Basketball umgestiegen.

Wie wichtig war der Sport für Sie?

Müller:

Unglaublich wichtig. Ich habe wieder meinen Körper gespürt. Und ich habe gemerkt, dass ich auch im Rollstuhl noch viel erreichen kann. Das Leben ist nicht vorbei.

Gab es dennoch irgendwann einen Tiefpunkt?

Müller:

Ja, mit 19, also drei Jahre nach meinem Querschnitt. Da stand ich mitten im Abitur und musste wegen eines Druckgeschwürs wieder wochenlang ins Krankenhaus. Eigentlich hätte ich die Abi-Arbeiten schon gar nicht mehr schreiben dürfen. Da wurde mir dann einfach alles zu viel. Der Abi-Stress, und vor allem der erneute Verlust meiner ganzen Fitness, weil ich nur liegen konnte. Da habe ich mich schon gefragt, wie ich das alles noch schaffen soll. Aber am Ende habe ich die mündlichen Prüfungen nachgeholt und das Abitur bestanden.

Sie haben dann Heilpädagogik studiert und in den USA ein Bachelor-Studium abgeschlossen. Eine absolute Erfolgsstory, getoppt durch das paralympische Gold in London 2012. Können Sie dennoch Patienten verstehen, die Ihnen als Therapeutin im Unfallkrankenhaus Boberg nach einem Querschnitt sagen: Ich will so nicht mehr leben.

Müller:

Ja, das kann ich. Und ich weiß auch, dass der Einschnitt für einen 40- oder 50-Jährigen mit einem frischen Querschnitt noch viel brutaler ist. Der hat sich gerade vielleicht sein Traumhaus gebaut, was aber nicht behindertengerecht ist. Der muss womöglich seinen Beruf aufgeben, der für ihn auch Berufung war. Ich hatte es da einfacher, weil ich mit 16 die Weichen für mein künftiges Leben noch relativ einfach neu stellen konnte.

Und was sagen Sie den Betroffenen dann?

Müller:

Häufig beobachten wir, dass sich Patienten zunächst an die Hoffnung klammern, doch wieder gehen zu können. Irgendwann kommt der Moment der Einsicht. Die Trauer muss man dann auch zulassen. Doch dann versuche ich zu vermitteln, dass Selbstmitleid der falsche Weg ist. Es geht nur mit dem eigenen Antrieb, die neue Lebenssituation anzunehmen und zu bewältigen. Und der Sport, gerade in der Gemeinschaft, ist ein guter Weg.

Im Rollstuhl-Basketball spielen Sie auch mit Menschen ohne Behinderung zusammen, die sich nur für das Training und die Spiele in den Rollstuhl setzen. Ist es nicht komisch, dass die dann einfach aufstehen.

Müller:

Nein, das ist gar kein Problem. Im Gegenteil, ich finde es wunderbar, dass wir gemeinsam Sport machen können. Häufig handelt es sich um ehemalige richtig gute Basketballer, die nach einer Knieverletzung zu uns wechseln.

Welche Erinnerung verbinden Sie mit Ihrem größten Erfolg, dem Gold bei den Paralympics?

Müller:

Wie ich im Finale 90 Sekunden vor dem Spielende auf die Uhr schaue und sehe, diesen Vorsprung kann man uns nicht mehr nehmen. Der Rest war dann nur noch Jubel und Tränen. Umso komischer war dann die Rückkehr nach Hamburg. Nach all dem Trubel und den Wochen in der Gemeinschaft war man plötzlich wieder allein. Mit dieser Stille musste ich erst klarkommen.

Sie haben ein Jahr fast nur für die Paralympics gelebt.

Müller:

Ja, dank der Unterstützung von Sponsoren, der Sporthilfe und dem Team Hamburg konnte ich mir das leisten. Ich habe fast jeden Tag zweimal trainiert, brauchte dann auch Phasen der Regeneration. Was wir machen, ist echter Hochleistungssport.

Funktioniert dieser Sport nach den gleichen Gesetzen wie bei Sportlern ohne Behinderung?

Müller:

Ja, auf jeden Fall. Wenn ich nicht mehr zu den zwölf Besten in meinem Sport in Deutschland gehöre, bin ich draußen. Aber das ist auch gut so. Wir wollen nicht bedauert werden, bloß kein Heiteitei. Wie gesagt, wir sind Hochleistungssportler.

Mit Mitleid können Sie offenbar wirklich nichts anfangen.

Müller:

Neulich wurde ich in einem Interview mal gefragt, wie dankbar ich denn den Fußgängern in unserem Team wäre, die sich ehrenamtlich für uns engagieren würden. Hallo? Geht es noch? Oder so Fragen, wie ich denn trotz meines Querschnitts so fröhlich wirken könnte. Manchmal habe ich das Gefühl, ich müsste mich für mein Gefühl, glücklich zu sein, rechtfertigen.

Sie waren am Mittwoch Ehrengast bei einem Galadiner in Berlin mit Angela Merkel und Barack Obama. Was wünschen Sie von der Kanzlerin in Sachen Politik für Menschen mit Behinderung?

Müller:

Dass wir zu einem viel selbstverständlicheren Umgang untereinander kommen. In Sachen Barrierefreiheit hat sich schon viel getan, auch bei der Deutschen Bahn. Wobei ich es gut finden würde, wenn man uns als Experten mehr einbeziehen würde. So sind die Behindertentoiletten für uns oft schlicht zu hoch. Das ist ein ziemlicher Aufwand, da hochzuklettern.

Frau Müller, Minister Schäuble hat einmal gesagt, dass er sich in Träumen nur mit zwei gesunden Beinen sieht, nie im Rollstuhl.

Müller:

Stimmt, dass ist bei mir auch meistens so. In meinen Träumen sitze ich selten im Rollstuhl, sondern gehe. Das hat aber nichts damit zu tun, dass ich irgendein Problem mit dem Rollstuhl hätte.

Träumen Sie manchmal, dass der medizinische Fortschritt die Querschnittslähmungen besiegt?

Müller:

Natürlich lese ich entsprechende Berichte in den Zeitungen, etwa über Versuche mit Ratten. Aber es ist nicht so, dass ich diese Artikel in Ordnern sammle. Wenn sich etwas ändern würde, wäre es gut, wenn nicht, ist es auch in Ordnung. Mein Leben wäre anders verlaufen, wenn ich nicht gelähmt wäre. Aber bestimmt nicht glücklicher oder unglücklicher.