Was passiert in den Stunden vor einem Boxkampf? Das Abendblatt begleitete den Hamburger Profi Jack Culcay vor seiner ersten Niederlage

Hamburg. Die Bestürzung war groß in der Nacht zu Sonntag in der Sporthalle Hamburg. Jack Culcay, Halbmittelgewichts-Boxprofi und großer deutscher Hoffnungsträger des Berliner Sauerland-Teams, hatte gegen den Argentinier Guido Nicolas Pitto, 25, in seinem 15. Profikampf die erste Niederlage erlitten - und niemand konnte es verstehen. Zwar hatte der 27-Jährige seine technische Überlegenheit nicht ausreichend in Wirkungstreffer umsetzen können, den Kampf aber über weite Strecken im Griff gehabt. Wieso zwei Punktrichter den Argentinier vorne sahen, der Brite Howard Foster mit 115:113, der Belgier Philippe Verbeke gar mit 116:112, war unergründlich. Nach der Sommerpause soll es zum Rückkampf kommen. "Jack bleibt ein wichtiger Baustein unserer Zukunftsplanung", sagte Promoter Kalle Sauerland.

Das Geschehen im Ring hatten 3200 Fans in der Halle und 2,86 Millionen bei der ARD verfolgen können. Doch was passiert in den Stunden vor einem Kampf? Das Abendblatt durfte den Amateurweltmeister von 2009 den ganzen Sonnabend lang begleiten.

8.30 Uhr: Culcay wird in seiner Wohnung in der Langen Reihe in St. Georg von seiner ein Jahr alten Dobermann-Hündin Chica geweckt. Gassigehen um den Block ist angesagt.

11.30 Uhr: Culcay, der auf dem Sofa noch einmal eingeschlafen war, wird von Moritz Klatten, Manager, Athletikcoach und Ernährungsberater in Personalunion, ein zweites Mal geweckt. Klatten bringt Himbeeren und Nüsse zum Frühstück, beides liefert wichtige Nährstoffe und hält den Blutzuckerspiegel den Tag über stabil. Dazu trinkt Culcay schwarzen Kaffee mit etwas Zucker und stilles Wasser. Über den Tag verteilt trinkt er rund drei Liter, je näher der Kampf kommt, desto kleiner sind die Mengen, um nicht zu oft aufs Klo zu müssen und keinen "Blubberbauch" zu haben. Elektrolytgetränke sowie Multivitamin-, Fischöl-, Zink- und Aminosäurekapseln nimmt er über den Tag verteilt ebenfalls zu sich.

13 Uhr: Culcay und Klatten essen im "Tarantella" am Dammtor zu Mittag. Es gibt Lauchsuppe mit Kalbfleischklößen und Hühnerfrikassée mit Reis. Proteine und gesunde Kohlenhydrate, die leicht verdaulich sind. Anschließend geht es mit Chica für eine halbe Stunde auf die Hundewiese vor dem Café Cliff an der Außenalster.

15 bis 18 Uhr: Culcay verbringt den Nachmittag mit dem Gucken von Fernsehserien wie "How I met your mother" oder "Two and a half men" und Musik hören, und er schläft immer wieder. Er hat die Gabe, wie auf Knopfdruck entschlummern zu können. Langstreckenflüge verschläft er gern komplett.

18 Uhr: Abendessen im "Block House" am Hauptbahnhof. Seine jüngere Schwester Manuela und deren Mann Dario, die aus seiner Heimat Pfungstadt angereist sind, leisten Gesellschaft. Vater Roberto verpasst wegen eines dringenden Termins in der heimischen Boxschule zum ersten Mal einen Kampf. Culcay isst ein kleines Filet Mignon (180 Gramm) mit Backkartoffel und trinkt ein Malzbier. Während des Essens erhält Culcay eine SMS von Klatten. Inhalt: Der Text der deutschen Nationalhymne, die sie vor dem Kampf gemeinsam singen werden. Culcay kennt ihn als langjähriger Sportsoldat, aber es ist ein Ritual, das beide schätzen.

20.15 Uhr: Nach einem einstündigen Nickerchen in seiner Wohnung wird Culcay vom Fahrdienst abgeholt. Von St. Georg geht es über Eppendorf, wo Klatten und Physiotherapeut Florian Friedrich zusteigen, vor die Sporthalle Alsterdorf, wo Trainer Fritz Sdunek und ein Kamerateam bereits warten.

20.35 Uhr: Culcay betritt die rund 12 m² große Kabine, die er sich mit Halbschwergewichtler Dustin Dirks teilt. Sein erster Weg führt auf Klo, anschließend probiert er seine neue Boxhose an. Sie sitzt etwas eng und muss seitlich angeschnitten werden.

20.45 Uhr: Der Komiker Buddy Ogün, mit dem Culcay in der Vorbereitung einen Videospot gedreht hatte, kommt in die Kabine und dreht noch einen kleinen Spot, in dem er Tipps gibt, wie Pitto zu besiegen ist. Culcay spielt mit, von Aufregung ist bei ihm noch keine Spur.

20.55 Uhr: Physiotherapeut Friedrich massiert Culcays Beine mit Tigerbalm-Massageöl aus Thailand, das die Durchblutung fördert.

21.05 Uhr: Sdunek klebt die Schnürbänder von Culcays Stiefeln fest, damit er im Kampf nicht darüber stolpert.

21.06 Uhr: Die Gewinnerin einer Gewinnspielaktion darf in der Kabine ein Foto mit Culcay machen und ein paar Sätze mit ihm wechseln.

21.13 Uhr: Friedrich cremt Culcays Oberkörper mit Bodylotion ein. Das macht die Haut geschmeidig und schützt vor den heißen Scheinwerfern über dem Ring. Inzwischen sind auch die Fotografen Michael Freitag und Christian Barz eingetroffen, die Culcay für seinen Auftritt in den sozialen Medien ablichten und filmen.

21.30 Uhr: Oliver Brien, Supervisor des Weltverbands WBA, dessen Interkontinentalmeister Culcay ist, will das Tapen der Hände beobachten. Das ist Vorschrift, damit nicht geschummelt wird.

21.36 Uhr: Sdunek beginnt das Bandagenwickeln an der rechten Hand. Das ist Zufall, Culcay ist nicht abergläubisch. Pro Hand benötigt der Trainer eine Rolle Tape und exakt acht Minuten. Er nutzt die Zeit für ein paar taktische Anweisungen. Da Sdunek erst vor wenigen Wochen die Arbeit mit Culcay begonnen hat, muss der Boxer den Sitz der Tapes überprüfen. Wenn sie zu eng sitzen, schlafen die Hände ein. Sdunek muss an den Daumen ein wenig lockern. Brien zeichnet die Bandagen um 21.57 Uhr ab.

22.03 Uhr: Cutman Giulio Spagnoli erhält in der Kabine eine kurze Einweisung und nimmt den zweiten Zahnschutz an sich. Den ersten hat Sdunek, er wird ihn Culcay kurz vor Kampfbeginn in den Mund schieben.

22.06 Uhr: Culcay macht Schattenboxen zur Erwärmung. Er ist weiter die Ruhe in Person, redet nur wenig.

22.10 Uhr: Promoter Kalle Sauerland betritt die Kabine, um Glück zu wünschen, sein Bruder Nisse folgt kurz später, ebenso Ringrichter Jan Christensen aus Dänemark, der Culcay die Kampfhandschuhe überreicht. Seinen Champions-Gürtel hat der 172 cm große Athlet selbst mitgebracht, er bewahrt ihn in seinem Wohnzimmer auf. Sdunek hilft Culcay in die Handschuhe, auch hier rechts zuerst. Dann zeichnet Christensen sie ab.

22.16 Uhr: Sdunek startet die Pratzenarbeit mit Culcay, ein ARD-Kamerateam filmt 40 Sekunden lang für den Vorbericht.

22.23 Uhr: Stallgründer Wilfried Sauerland kommt für einen kurzen Glückwunsch in die Kabine. Sdunek treibt Culcay zu Schlagserien von zwei bis zehn Schlägen an, um dessen Kreislauf auf Maximalbelastung hochzufahren. Die Schläge kommen hart und präzise, der Trainer ist sehr zufrieden. "Du schlägst schneller, als du zählen kannst", sagt er. Später wird man sich fragen, warum die Schläge im Kampf nicht so zur Geltung kamen.

22.35 Uhr: Die drei Sauerlands verlassen die Kabine, Culcay wird noch einmal kurz von Friedrich eingerenkt.

22.45 Uhr: ARD-Kurzinterview mit Sdunek in der Kabine. Dann schnappt sich Friedrich den Gürtel, den er in den Ring tragen wird, Klatten nimmt den Eimer mit drei Wasserflaschen und Eiswürfeln, Sdunek ein Handtuch, und los geht es durch das zugige Treppenhaus in Richtung Innenraum zum Walk-in. Erst jetzt spürt der Boxer eine leichte Aufregung.

22.48 Uhr: Culcay nimmt noch einen schnellen Schluck stilles Wasser, dann marschiert er zu den Klängen von "Beamer, Benz or Bentley" von Lloyd Banks in den Ring. Der Kampf kann beginnen. Wie er enden wird, hat niemand vorausgesehen.