Europas bester Tischtennisspieler Timo Boll über Parallelen zu China, das Geld anderer Profisportler und Fairness an der Platte.

Hamburg. Seit Timo Boll 2002 zum ersten Mal Europameister wurde, gehört der Odenwälder zu den besten Tischtennisspielern der Welt. Zweimal eroberte er in diesem Zeitraum sogar die Spitzenposition der Weltrangliste - gegen die übermächtige Dominanz der chinesischen Spieler. Am nächsten Sonnabend, 12. Januar, tritt Boll, 31, mit seinem Bundesliga-Team Borussia Düsseldorf in Hamburg auf. In der Sporthalle Tegelsbarg spielt der deutsche Rekordmeister gegen Werder Bremen.

Hamburger Abendblatt: Bei Ihrem letzten Auftritt in Hamburg, den deutschen Meisterschaften 2008, verloren Sie überraschend im Halbfinale gegen den Außenseiter Lei Yang. Welche Erinnerungen haben Sie noch an Hamburg?

Timo Boll: Ich erinnere mich daran, dass die Hamburger alles perfekt organisiert haben. Und dass die Zuschauer hier begeistert mitgehen.

Dieses Bundesligaspiel wird als "Event" vermarktet. Der Pianist Joja Wendt, der schon bei Tischtennis-Europameisterschaften aufgetreten ist, eröffnet die Veranstaltung. Muss der Sport aufgepeppt werden?

Boll: Joja Wendt kenne ich ganz gut, er mag unseren Sport, spielt gern Tischtennis und hat sogar einen Tischtennis-Song im Programm. Damit bleibt das Ganze authentisch.

Lenkt Sie so etwas als Spieler ab?

Boll: Im Gegenteil. Wir bekommen ja von dem Rahmenprogramm leider nichts mit, weil wir uns da noch in der Kabine vorbereiten.

Ihr Verein hat das Spiel als Gastgeber nach Hamburg verlegt. Verzichten Sie da nicht auf den Heimvorteil?

Boll: Dieser sogenannte Heimvorteil wird im Sport immer überbewertet. Wenn die Leute mitgehen, müssen sie nicht unbedingt nur uns Düsseldorfer unterstützen. Und wenn die Stimmung prickelt, wenn wir guten Sport bieten und an unser Leistungslimit kommen, ist es doch egal, wo so ein Spiel stattfindet.

Für Hamburg ist ein Tischtennis-Bundesligaspiel etwas ganz Besonderes. Außer in Düsseldorf, Bremen und vielleicht noch Saarbrücken wird Tischtennis eher in kleinen Orten gespielt. Wie schwierig ist es eigentlich, diesen Sport in einer Großstadt zu etablieren? Hamburgs große Tischtenniszeit liegt nun schon mehr als ein halbes Jahrhundert zurück.

Boll: Das erleben wir ja auch im Handball und anderen Sportarten. Der Ursprung liegt meistens in den kleineren Regionen. Dort haben die Vereine allerdings mehr Probleme, Sponsoren zu finden. Das ist in der Großstadt einfacher. Am besten wäre wohl eine gesunde Mischung.

Das Beispiel des deutschen Tischtennis-Damenmeisters FSV Kroppach zeigt ja, dass es immer schwieriger wird, Geldgeber und freiwillige Helfer zu halten.

Boll: Das erleben inzwischen ja sogar Bundesligavereine im Fußball. Wir müssen einfach ein gutes Paket anbieten. Und da ist Tischtennis ganz gut aufgestellt. Wir haben einen guten Ruf, sind eine saubere Sportart, wir bieten schöne und erfolgreiche Spiele. Viele Menschen in Deutschland und in der ganzen Welt spielen Tischtennis. Aber es bleibt viel Arbeit, wir müssen das Publikum immer wieder neu überzeugen.

Sie kehren regelmäßig mit Medaillen von großen Wettbewerben zurück. Das ist doch ein Pfund, mit dem Sie wuchern können ...

Boll: Für eine Randsportart sind Erfolge das A und O, sonst kann sie keine Emotionen übertragen. Die Deutschen wollen nun mal erfolgreiche Sportler sehen. Und da hatten wir jetzt ein ziemlich gutes Jahrzehnt.

Sie sind ein populärer Sportler, mischen über Jahre in der Weltspitze mit. Nun waren Sie aber auch einmal ein passabler Fußballspieler. Da könnten Sie in Ihrem Alter längst ausgesorgt haben ...

Boll: Ich habe meinen Sport nie betrieben, um damit viel Geld zu verdienen oder reich zu werden. Mir hat's einfach Spaß gemacht. Ich hatte nie so hohe Erwartungen. Dass es so gut gelaufen ist, hätte ich mir nie erträumt. Deswegen bin ich glücklich, wie es ist, und trauere da nicht anderen Möglichkeiten hinterher. Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht und kann gut davon leben. Ich versuche jetzt, dem Sport etwas zurückzugeben, und will helfen, dass er populär bleibt. Ich bin kein neidischer Mensch. Ich gönne den Fußballprofis ihr Geld. Der Sport gehört eben auch zur Marktwirtschaft, und Fußball ist hier Nationalsport - da ist es in Ordnung, dass die Jungs so viel verdienen. Wir würden das ja auch nehmen. In China zum Beispiel ist Tischtennis Nationalsport. Jeder muss im Sport seinen Markt und seine Nische finden.

China ist ein gutes Stichwort. Sie sind dort beinahe populärer als hier, genießen Starkult. Sie sind oft nach China gefahren und haben dort gelebt. Was bedeutet dieses Land für Sie?

Boll: Man erkennt schon, dass die Chinesen gewisse Ähnlichkeiten zu uns Deutschen haben. Sie sind sehr fleißig und erfolgsorientiert, mittlerweile haben die Menschen auch dort sehr viele Möglichkeiten, etwas aus ihrem Leben zu machen. Das forcieren sie auch, arbeiten an sich, öffnen sich, entwickeln sich. Da sehe ich viele Parallelen. Aber das Entwicklungstempo ist enorm. Als ich vor 15 Jahren zum ersten Mal in China war, bin ich überall auf den Straßen mit Armut konfrontiert worden. Mittlerweile gibt es sogar einen breiten Mittelstand. Diese ganzen Eindrücke bringen mich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

Was haben Sie sportlich aus China mitgenommen?

Boll: Allein das Training bringt unglaublich viel. Ich habe meine ganze Karriere hindurch immer versucht, mir die besten Dinge herauszusuchen, die meinem Spiel helfen können, und einiges auch zu kopieren: von dem einen die Rückhand, vom anderen die Beinarbeit, vom nächsten das Kurzspiel und schließlich auch ein paar Aufschläge. Da habe ich eine Menge gelernt.

Eine solche Dominanz wie die der Chinesen gibt es in kaum einer anderen Sportart. Sie sind der beste Spieler Europas, aber wenn Sie einen Chinesen besiegt haben, ist wie bei der Hydra schon der nächste da. Ist das frustrierend?

Boll: Ich habe ja ab und zu mal gegen einen Chinesen gewonnen. Das ist schon eine Genugtuung. Aber ist es wirklich schwierig, nicht nur einen zu schlagen, sondern die komplette Bande. Eine ganze Mannschaft auszuschalten ist fast unmöglich, weil einer doch immer in überragender Form spielt. Aber genau das ist ja die Herausforderung. Allein weil ich immer gegen diese Dominanz ankämpfen musste, habe ich mich so lange in der Weltspitze halten können

Sie sind jetzt 31 Jahre alt. Der Schwede Jörgen Persson stand mit 42 noch in einem olympischen Halbfinale. Spüren Sie noch Raum für Verbesserungen?

Boll: Ich versuche auf jeden Fall, mein Spiel immer noch weiterzuentwickeln. Sonst könnte ich nicht mehr unter den Top fünf oder zehn mitmischen. Die Motivation habe ich noch, die körperlichen Voraussetzungen, um weiter angreifen zu können, habe ich auch. Insofern sehe ich noch ein paar gute Jahre vor mir.

Sie haben 16 Europameistertitel, Olympia- und WM-Medaillen, waren Nummer eins der Welt. Was treibt Sie da noch an?

Boll: Der Sport macht mir immer noch Spaß, ich habe einen natürlichen Ehrgeiz. Wenn ich irgendwo antrete und die Zuschauer haben dafür bezahlt, dann gehört es sich, dass man sich auch anstrengt. Wenn ich zu einem Konzert gehe und der Künstler hat keine Lust zu singen, bin ich auch enttäuscht. Das will ich vermeiden. Sportler sind auch Entertainer. Ich will mein Publikum zufriedenstellen.

Wie gehen Sie eigentlich mit Niederlagen um? Bei den Olympischen Spielen in London sind Sie im Einzel überraschend früh gegen den Rumänen Adrian Crisan ausgeschieden, hatten danach im Mannschaftswettbewerb aber Erfolg.

Boll: Am ersten Abend nach der Niederlage habe ich schon gedacht, dass ich daran länger zu knabbern hätte. Ich hatte mich gequält für dieses Turnier, konsequent darauf hingearbeitet und mir sicher höhere Ziele gesteckt, als im Achtelfinale zu stehen. Ich war wohl ein wenig nervös und habe mich zu sehr auf mein Ziel versteift. Aber ich denke, dass es eine meiner Qualitäten ist, so eine Niederlage zu akzeptieren, wenn der Gegner gut gespielt hat. Da habe ich mir nichts vorzuwerfen in meiner Karriere. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich nicht alles probiert oder gegeben hätte. Ich habe daraus gelernt und habe mir vorgenommen, es 2016 in Rio besser zu machen.

Müssen Sie Ihre Auftritte jetzt dosieren? Tennisprofis wie Federer oder Nadal spielen nur noch die Saisonhöhepunkte.

Boll: Ich muss schon aufpassen, dass ich mich nicht überspiele. Jenseits der 30 muss man schon mehr auf seinen Körper achten und in ihn hineinhören. Den Fehler, zu viel zu spielen, habe ich leider mehrmals in meiner Karriere gemacht. Dafür habe ich immer die Quittung bekommen. Das versuche ich jetzt besser zu dosieren. Ich sage auch mal kleinere Turniere ab und muss nicht jedem Euro hinterherrennen.

Sie engagieren sich sehr für faires Spiel und gegen Doping. Sie haben selbst schon spielentscheidende Punkte abgetreten. Warum ist das für Sie unverzichtbar?

Boll: Nur dann kann ich einen Erfolg auch genießen. Wenn ich irgendwo betrogen hätte und würde sogar das Turnier gewinnen, würde das immer in meinem Hinterkopf bleiben. Sogar eine reelle Niederlage fühlt sich besser an als ein Sieg, der einem gar nicht gehört.

Wie würden Sie reagieren, wenn Sie so etwas selbst bei einem Gegner erleben?

Boll: Es wäre schon schwieriger, fair zu bleiben. Aber ich probiere es trotzdem. Und auch wenn ich den Respekt vor diesem Gegner verliere, muss ich versuchen, meine Linie durchzuziehen und mich nicht mitreißen zu lassen.

Sehen Sie sich in da einer Vorbildrolle?

Boll: Ich merke schon, dass immer mehr Spieler, die gegen mich antreten, fairer spielen. Vielleicht ist das ja ansteckend. Ich habe da schöne Erfahrungen gemacht mit Gegnern, die anfangs kleinere Punkte nicht zugegeben haben, eine Doppelberührung etwa oder einen Kantenball. Später sind sie dann fair geworden. Jeder muss diesen Weg für sich finden, gegen seinen inneren Schweinehund angehen. Diesen Egoismus hat ein Mensch nun einmal. Am Ende ist es einfach ein schönes Gefühl, wenn du weißt, dass du fair durchs Leben gegangen bist. Und das gilt nicht nur für den Sport.