Herausforderer Manuel Charr war gegen Vitali Klitschko völlig chancenlos - und fordert dennoch einen Rückkampf gegen den Weltmeister

Moskau. Wie beruhigend ist es, doch zu sehen, dass selbst im schlimmsten Sturm, der ringsherum tobt, noch Inseln der Ruhe existieren. Die ergraute Frau im hellblauen Kittel ließ sich jedenfalls von ihrer Arbeit nicht abbringen. Mit gemächlichen Schwüngen wischte sie die blutigen Spuren eines Duells aus dem Ring, über dessen Ausgang sich am frühen Sonntagmorgen in Russlands Hauptstadt eine Diskussion entwickelte, die teilweise komödiantische Züge aufwies und die ihrerseits die Frage aufkommen ließ, ob RTL anstatt der Kämpfe der Klitschko-Brüder in Zukunft nicht lieber die Pressekonferenzen danach übertragen sollte.

Gegeben wurde diesmal, auf der schmucklosen Bühne des Konferenzraums im Sportkomplex Olimpiskyi vor rund 150 begeisterten Medienvertretern, ein Stück aus der beliebten Reihe "Gib mir eine zweite Chance, die erste haben mir andere versaut". In den Hauptrollen: Stefan Holthusen, Ringarzt. Guido Cavalleri, Ringrichter. Und Manuel Charr, Herausforderer von Vitali Klitschko. Folgende Handlung war vor 20 000 Zuschauern in der nur zu zwei Dritteln besetzten größten Sporthalle Europas und 8,75 Millionen vor deutschen Fernsehschirmen dem Schauspiel vorausgegangen: Charr, ein 27 Jahre alter, im Libanon geborener Syrer mit Wahlheimat Köln und einem Antrag auf deutsche Staatsbürgerschaft in der Tasche, hatte drei Runden lang chancenlos versucht, den wie üblich mit hängender Deckung und pendelndem Oberkörper boxenden WBC-Weltmeister im Schwergewicht entscheidend zu treffen. In der zweiten Runde war er nach einer Rechten zu Boden gegangen und angezählt worden. Nach drei Runden lag er deshalb bereits mit vier Punkten zurück, und man begann sich zu fragen, was ihn bis auf die Hoffnung auf einen Lucky Punch überhaupt noch an einen Sieg hätte glauben lassen.

In der vierten Runde krachte eine linke Gerade des 41 Jahre alten Ukrainers an Charrs rechte Augenbraue, sodass sich ein rund eineinhalb Zentimeter langer Cut öffnete, der stark blutete. Nachdem der italienische Ringrichter Cavalleri dem munteren Blutfluss rund eine Minute zugeschaut hatte, bat er Ringarzt Holthusen um eine Begutachtung der Wunde. Dieser gab daraufhin, weil er wegen der Schwere der Blessur Folgeschäden für Charrs Augenlicht befürchtete, die Empfehlung zum Kampfabbruch, der Cavalleri - den Regeln entsprechend, denn nur er hat das Recht, einen Kampf abzubrechen - folgte. Das korrekte Urteil lautete also technischer K.-o.-Sieg für Vitali Klitschko.

Und plötzlich drehte Charr auf. Zunächst schubste er wütend sein gesamtes, vielköpfiges Team durch den Ring und zeigte dabei die Aggressivität, die ihm in den Runden zuvor gut zu Gesicht gestanden hätte. Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, was angenehm schnell passierte, entschuldigte er sich bei Klitschko für sein Verhalten und ersuchte diesen um einen Rückkampf. Dieses Ansinnen wuchs sich auf der Pressekonferenz zu einer regelrechten Bettelarie aus.

"Ich bitte dich, gib mir eine zweite Chance", rief Charr Klitschko immer wieder zu, zwischendurch erklärte er, seine Taktik, in der zweiten Kampfhälfte konditionell dominant aufzutreten und Klitschko auszuknocken, wäre "natürlich aufgegangen, ich habe doch die Angst in Vitalis Augen gesehen", was der beste Beweis dafür war, dass er tatsächlich nicht mehr klar sehen konnte. Es folgte eine erneute Lobeshymne auf "mein Idol Vitali", bis dann Ringarzt Holthusen ins Visier geriet. "Du hast meinen Traum zerstört", rief Charr dem Doktor zu, der auf der anderen Seite des Raumes äußerlich regungslos das Geschehen verfolgte.

Der bedauernswerte Simultandolmetscher, der zwischen russischer und deutscher Sprache hin- und herspringen musste, verlor spätestens da den Faden, irgendwann diskutierten Klitschko und Charr über Mikrofon miteinander, wobei sich der Unterlegene in dem Vergleich verhedderte, sein Bezwinger habe vor neun Jahren ja eine ähnliche Situation erleben müssen und käme deshalb nicht umhin, ihm den Rückkampf zu gewähren, den ihm damals, im Juni 2003, Lennox Lewis trotz Versprechens versagte. Charr übersah dabei das kleine, aber entscheidende Detail, dass Klitschko seinerzeit auf allen Punktzetteln mit 4:2 Runden führte, als der Kampf wegen eines schweren Cuts am Auge des Ukrainers abgebrochen wurde.

Der Gipfel des Unsinns war dann erklommen, als Charr einen Protest gegen das Urteil ankündigte, weil er in Klitschkos Ecke und nicht von "seinem Arzt", dem zweiten Ringarzt Stephan Bock, behandelt wurde und ihm zudem die Behandlung durch seinen Cutman Walter Knieps untersagt worden sei - die laut Regelwerk während einer laufenden Runde gar nicht gestattet ist.

Viel Lärm um nichts also, oder, um es mit Charrs Schlusswort zu sagen: "Kurze Rede, langer Sinn!" Den Sinn des Lebens versuchte dann zum Abschluss Vitali Klitschko zu erklären. "Wir beide wollen kämpfen bis zum Ende, bis zum Tod", sagte er, "aber die Gesundheit geht vor. Boxen ist nur ein kleiner Teil des Lebens, und deshalb müssen wir die Entscheidungen, die Ärzte oder Ringrichter treffen, akzeptieren." Eine Antwort auf die Frage, welche Entscheidung er selbst hinsichtlich seines weiteren Karriereverlaufs zu fällen gedenkt, will Klitschko auf die Zeit nach dem 28. Oktober verschieben. Dann tritt er als Chef der Reformpartei Udar zu den ukrainischen Parlamentswahlen an. Überspringt die Udar die Fünfprozenthürde, dann ist Vitali Klitschko Parlamentarier.

Was auch immer danach passiert, ob er zurücktritt, das britische Großmaul David Haye herausfordert, Charr ein Rematch gibt oder gegen jemand ganz anderen boxt: Es wäre schön, wenn in Zukunft wieder weniger geredet und ruhiger gearbeitet würde; ganz genau so, wie es die ergraute Frau im hellblauen Kittel vormachte in einer Nacht, in der vom Sturm der Entrüstung immerhin ein sauberer Ring zurückblieb.