Manuel Charr boxt gegen Vitali Klitschko um die Schwergewichtskrone - und um späte Anerkennung

Köln. Es war am 7. Juli in Bern, als Bernd Bönte die Beherrschung verlor. "Der Charr soll endlich aufhören, so devot zu sein. Sonst glaubt doch niemand, dass es ein ernsthafter Kampf wird", sagte der Manager der Schwergewichts-Boxweltmeister Wladimir und Vitali Klitschko. Der Charr, mit Vornamen Manuel, hatte kurz davor in einem Live-Interview neben Vitali Klitschko gestanden, dem Mann, den er an diesem Sonnabend (22.45 Uhr/RTL) in Moskau herausfordert. "Herr Klitschko", hatte er gesagt, "es ist eine große Ehre, dass ich gegen Sie antreten darf."

Nicht ganz zwei Monate später sitzt Charr in einer Gaststätte in der Kölner Südstadt und kann nicht verstehen, was an seinem Auftritt falsch gewesen sein soll. Er habe lediglich den Respekt ausdrücken wollen, den er für sein Vorbild empfindet. Trotzdem müsse sich niemand Sorgen darüber machen, dass er sich im Ring deshalb verstecken würde. "Es haben viele versucht, die Klitschkos zu beleidigen, und am Ende sind sie alle untergegangen. Hunde, die bellen, beißen nicht. Ich beiße lieber", sagt er.

Dabei halten ihn viele Menschen für ein Großmaul. Und tatsächlich ist es die Ambivalenz in seinen Aussagen, die den 27-Jährigen so schwer greifbar macht. Wenn er Sätze sagt wie "Vitali ist mein Fleisch", dann wird das zweite Gesicht des Manuel Charr sichtbar. "Wir alle tragen manchmal eine Maske, hinter der wir unser wahres Ich verstecken", sagt Charr.

Vitali Klitschkos Trainer Fritz Sdunek war zu gemeinsamen Universum-Zeiten auch Charrs Coach. Er sagt: "Manuel ist ein Träumer, der sich manchmal überschätzt. Aber er wird sein Kämpferherz und seinen Willen unter Beweis stellen. Er kennt nur den Vorwärtsgang und hat nicht umsonst alle seine 21 Profikämpfe gewonnen."

Er hat ja auch nichts anderes gelernt in seinem Leben, der Mann, der 1984 als Mahmoud Omeirat Charr im Libanon zur Welt kam. Sein syrischer Vater fiel 1987 im Bürgerkrieg, die Mutter flüchtete zwei Jahre später mit dem Fünfjährigen und fünf seiner sieben älteren Geschwister nach Deutschland. Der Jüngste half bald beim Geldverdienen, er putzte die Scheiben von an Ampeln wartenden Autos oder stahl Obst, das er zu verkaufen versuchte. "Ich musste mich jeden Tag prügeln, um mich zu behaupten", sagt er. Silvester verbrachte er anfangs im Keller, weil ihn das Knallen zu sehr an den Krieg in seiner Heimat erinnerte. Bis heute meidet er Dunkelheit, weil sie die Bilder aus dem Bunker in seinen Kopf zurückbringt. Bilder der vielen Toten, die er damals sehen musste. "Diese Bilder haben mich aggressiv gemacht", sagt er.

Seine Rettung war das Gelsenkirchener Jugendamt, zwei Sozialarbeiterinnen und ein Psychologe, die er "drei Engel für Charr" nennt. "Ich hatte den Status eines Geduldeten, durfte keine Ausbildung machen, nicht arbeiten", sagt er. Gegen die Langeweile schickten ihn seine "Engel" ins Duisburger Sportinternat. Dort kam er zum Kickboxen, und der Kampf nach Regeln wurde sein Einstieg in ein geregeltes Leben. Charr wurde Weltmeister, bestritt zehn Amateurboxkämpfe unbesiegt und wurde 2005 Profi beim Sauerland-Team.

Doch dann geriet er mit drei Stallkollegen in eine Schlägerei, an deren Ende ein Mann mit einem Messer schwer verletzt wurde. Charr kam für zehn Monate in Untersuchungshaft, bis er Ende 2007 aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde. Ob er selbst zustach und ob es Notwehr war, wie es hieß, darüber will er nicht reden. Lieber spricht er über die Folgen des Gefängnisaufenthalts, den er dazu nutzte, um Mithäftlinge zu trainieren. "Im Knast habe ich gespürt, dass ich anderen Menschen Hoffnung geben konnte."

Nach seiner Entlassung heuerte Charr in Hamburg bei Universum an. Sein damaliger Manager Dietmar Poszwa hält ihn für "einen willensstarken und geradlinigen Typen, der sich immer tadellos benommen hat". Als Universum 2010 den ZDF-Vertrag verlor, wechselte Charr kurzzeitig zu Felix Sturm, war auch beim Hamburger EC-Stall aktiv, ehe er sich mit seiner "Diamond Boy Promotion" in Köln selbstständig machte. Dort trainiert er in einer umgerüsteten Fleischerei mit seinen russischen Trainern Waleri Below und Wardan Zakarjan.

Um auf sich aufmerksam zu machen, organisierte der 192 cm große Athlet im März ein Dinnerboxen, für das er sich mit 50 000 Euro verschuldete. Dass er Gegner Taras Bidenko die Börse schuldig blieb und Hotelrechnungen nicht zahlte, wirft EC-Chef Erol Ceylan ihm bis heute vor. Charr will alles begleichen, sobald er sein Geld aus dem Klitschko-Kampf erhalten hat.

"Dieser Kampf", sagt er, "ist die Chance, um bekannt zu werden." Seiner Mutter will er eine Einbauküche spendieren, seine Wohnung in Köln kann er dann endlich finanzieren, auch ein gutes Auto sei wieder möglich. "Aber letztlich geht es mir darum, es allen zu zeigen, die nie an mich geglaubt haben."

Der Moslem fühlt sich längst als Deutscher, die Staatsangehörigkeit hat er beantragt. Er will sich als Weltmeister in der Politik engagieren, die Integration vorantreiben und Geld für Bedürftige sammeln, kurz: Er will vieles so machen wie Vitali Klitschko. Dass er sein Vorbild dazu besiegen muss, gehört wohl zur Ambivalenz seines Lebens.