Marathon: Wie sich Debütanten in der letzten Woche vorm Start fühlen.

Hamburg. Wie weit sind der Start und die Euphorie von heute morgen entfernt: endlich laufen dürfen! Endlich damit aufhören können, alles im Kopf wieder und wieder hin und her zu wälzen. Die letzte Woche vor dem Lauf wirst du zu einem Nervenbündel, wie du es gar nicht kennst von dir. Du wirst zum Hypochonder, zum Pseudoexperten, der alle angelesenen Ratschläge nochmal gegeneinander abwägt, du lebst mit einer inneren Bremse, betrachtest dich wie in Zeitlupe, ernährst dich ganz bewusst und deine Freizeit ist sorgfältig geplant.

Vor allem aber bist du nervös wie schon sehr lange nicht mehr, bis es dir einfällt: nervös wie vor einer Prüfung. Bei welchen Schulprüfungen hattest du zum letzten Mal so ein Gefühl? Aber jetzt machst du eine erstaunliche Erfahrung: Die ganze Woche über wartest du rastlos darauf, dass es endlich losgehen soll. Die Unruhe ist keine Angst, sondern pure Spannung, die endlich abgebaut werden will. Die letzten Tage werden unerträglich, du weißt nicht, wohin mit dir. Du bist auf dich zurückgeworfen. Auf dich. Ein ungewohnter, lang in dieser selbstgewählten Ausschließlichkeit nicht mehr erlebter Zustand. Wenn du wenigstens laufen gehen könntest . . .

Die letzten Tage, die letzten Nächte, du weißt es, Ruhe ist wichtig, der Geheimtipp jedoch lautet, nicht die letzte Nacht musst du lange schlafen, das wird sowieso nicht gut gelingen, sondern die vorletzte Nacht ist entscheidend. Überhaupt die ganze letzte Woche: Hier sorgst du für das Polster, das dich ausgeruht an deinem Startplatz stehen lassen wird. Und wenn das alles stimmt, was du über richtige Ernährung gelesen hast, dann müsstest du jetzt gleich konzentriert loszulaufen beginnen, voller Saft und Kraft, mit jeder Menge angelegter Depots, auf Höchststand gebrachten Werten und genügend Reserven, um bei den kritischen Phasen in Ruhe nachlegen zu können. Kohlenhydrate, Eiweiß, Magnesium, Fruchtzucker . . . - der Mechaniker schaut vor dem Rennen nochmal zum letzten Check unter die Motorhaube des Flitzers, taucht wieder auf, blickt dem Fahrer ins Gesicht und macht endlich mit seinem Daumen das beruhigende Zeichen: alles top! Kann losgehen!

Nun also stehst du am Start, bist viel zu früh mit der U-Bahn zum Startgelände gefahren, hast das Geschiebe, die unüberschaubare Menge von Mitläuferinnen und Mitläufern, die Schlangen vor den Ein- und Ausgängen und vor den Toilettenhäuschen mit stoischer Ruhe ertragen. Ich bin Teil dieses Geschehens - das war wichtig. Ganz selbstverständlich habe ich hier meinen Platz, eine eigene Nummer, ein selbstgestecktes Ziel. Ich gehöre dazu. Mit überspielter Genugtuung hast du dich an eurem Treffpunkt eingefunden, hast leicht verschämt die Routiniers beobachtet, wie sie ihr Handwerk der Vorbereitungen verrichten. Alle müssen mit der Aufregung umgehen, verschwinden viel zu oft hinter dem nächsten Busch, alle sind aufgedreht und konzentriert zugleich.

Es wird Zeit, die überflüssigen Lagen an Kleidung abzulegen und vom bloßen Körper ausgehend Handgriff um Handgriff zu tun, der dir Sicherheit gibt und der dich so in deine Socken, in deine Schuhe, in deine Hose und in dein Hemd stellt, dass du stundenlang beschwerdefrei laufen kannst. Was du nach diesem ersten Lauf wissen wirst: Die Socken sind genauso wichtig wie die Schuhe. Socken können sogar Halt geben, anstatt zu verrutschen! Die erfahrenen Läufer reiben sich die Achselbeugen mit Fett ein (Olivenöl wird um dich herum hoch gehandelt, das ideale Hausmittel). Die Brustwarzen werden abgeklebt - das wars.

  • Die Autoren Joachim Düster und Werner Irro gaben in Hamburg 2003 ihr Marathon-Debüt. Ihr Beitrag ist Teil eines Marathon-Buches, das in diesem Sommer erscheinen soll.