Der unterschenkelamputierte Läufer Oscar Pistorius begeistert die Massen - doch sein Start ist hoch umstritten

London. Es ist einer dieser seltenen Momente, in denen Sportler spüren, dass sich die jahrelangen Trainingsqualen gelohnt haben: 80 000 Augenpaare sind auf ihn gerichtet; die Menschen erheben sich von ihren Plätzen, jubeln, applaudieren. Oscar Pistorius lächelt irritiert an diesem Sonntagabend in London. Gerade war sein Konkurrent Kirani James zu ihm gekommen, um die Namensschilder mit den Startnummern zu tauschen. Eine Geste zwischen Sieger und Verlierer in diesem 400-Meter-Halbfinale. James hatte gewonnen, Pistorius war Letzter geworden. Seinen Sieg hatte er da längst errungen - den, dass er mitlaufen durfte. Pistorius ist unterschenkelamputiert und geht mit Carbonprothesen an den Start. "Es hat sich magisch angefühlt. Wenn ich vorhergesagt hätte, wie es sich anfühlt oder es mir in meinen wildesten Träumen ausgemalt hätte, dann war es jetzt mindestens zehnmal so stark", sagte der 25 Jahre alte Südafrikaner nach dem Rennen.

Doch vielleicht hat er auch gedacht, dass es ganz gut so war, seine sportlichen Ziele nicht erreicht zu haben. Er ist ausgeschieden mit einer Zeit von 46,54 Sekunden. Seine Bestleistung liegt 1,47 Sekunden darunter. Doch wenn er es in den Endlauf geschafft, vielleicht sogar eine Medaille gewonnen hätte - dann wäre sie wieder über ihn hereingebrochen, die Diskussion um seine Carbonprothesen. Über die vermeintlichen Vorteile, die sie ihm verschaffen.

Oscar Pistorius ist noch nicht ganz ein Jahr alt, als ihm die Unterschenkel amputiert werden. Er war ohne Wadenbeine geboren worden, hätte nie gehen können. Seine Mutter Sheila erzieht den Jungen kämpferisch. "Ein Verlierer ist kein Mensch, der es versucht hat und Letzter geworden ist, sondern einer, der es erst gar nicht versucht hat", lautet der Satz, den sie ihm immer wieder eingebläut hat. Seinen schönsten Moment erlebt sie nicht mehr mit, sie starb vor zehn Jahren.

Seinen sportlichen Ehrgeiz lebt er zunächst beim Rugby aus. Erst nach einer Verletzung kommt er in der Reha zum Laufsport. Bei den Paralympics 2004 startet er in Athen und gewinnt Gold über 400 Meter und Bronze über 100 Meter. Vier Jahre später gewinnt er beide Strecken, dazu die 200 Meter. Vor allem seine 400-Meter-Zeit, die er 2011 auf 45,07 Sekunden verbessert, ist auch bei den Nicht-Behinderten konkurrenzfähig. 45 Sekunden gelten als die Grenze zur absoluten Weltklasse. Pistorius will schon 2008 bei Olympia starten, nicht "nur" bei den Paralympics. Und tritt damit eine Debatte los, die bis heute anhält.

Der internationale Leichtathletikverband, die IAAF, will seinen Start verhindern. Seine Carbonprothesen seien ein unzulässiges technisches Hilfsmittel. Pistorius zieht vor den Internationalen Sportgerichtshof - und gewinnt. Doch das Urteil ergeht erst sechs Wochen vor den Spielen in Peking, und der damals 21-Jährige schafft es nicht mehr, die vorgeschriebene Normzeit zu laufen. Die Diskussionen über ihn gehen dennoch weiter.

Die Argumente pro und kontra sind seit Jahren die gleichen. Clemens Prokop, Chef des deutschen Leichtathletikverbandes (DLV), etwa sagt: "Sportliche Leistung darf allein von Körper und Training abhängen, nicht von technischen Hilfsmitteln." Sein Vorgänger Helmut Digel sieht es genauso. Bei aller Begeisterung über Pistorius müsse man ehrlich fragen: "Was würden wir tun, wenn er die 400 Meter in 42 Sekunden läuft und alles gewinnt?" Der Weltrekord des US-Amerikaners Michael Johnson liegt bei 43,19 Sekunden. Viele Läufer, heißt es in der Szene, sehen es ähnlich wie Digel, trauten sich aber nicht, das öffentlich zu sagen. Pistorius betont die Nachteile, die seine Prothesen mit sich bringen: Beim Start sei er viel langsamer als alle Konkurrenten, in den Kurven seien Beine mit Sehnen und Muskeln den Prothesen weit überlegen. "Sie sind ein Stück Ausrüstung. In der Leichtathletik werden auch ständig die Schuhe verbessert, es wird geforscht, sie werden den Sportlern maßgeschneidert", schrieb er in einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung".

Pistorius' Erfolg vor dem Sportgericht bedeutete übrigens keine Grundsatzentscheidung; es ging nur um seinen Einzelfall. Denn es gibt längst Prothesen, die denen des Südafrikaners weit überlegen sind. Mit ihnen könnte man vielleicht wirklich die 800 Meter in 42 Sekunden laufen.

Bei der WM in Daegu gewann Pistorius Silber mit der südafrikanischen Staffel

Dem Publikum in London sind diese zumindest noch theoretischen Debatten gleichgültig. Und so wird es Oscar Pistorius morgen erneut mit einem besonders herzlichen Applaus begrüßen. Denn der Läufer hofft noch auf zwei weitere Auftritte im Olympiastadion: im Vor- und Endlauf der 4x400-Meter-Staffel. Vergangenes Jahr bei den Weltmeisterschaften in Daegu durfte er im Vorlauf ran, im Finale dann nicht mehr. Aber die Silbermedaille bekam er als Teil der Mannschaft dennoch. Keine Utopie also, dass Oscar Pistorius, der "fastest man on no legs", bald eine olympische Medaille in seinen Händen halten wird.

Wäre das gerecht? Oscar Pistorius ist mit sich jedenfalls im Reinen. "In meinem Herzen weiß ich, was recht ist. Ich würde hier nicht laufen, wenn ich Zweifel hätte."