Vor vier Jahren wurde der Gewichtheber zur olympischen Ikone, als er das Foto seiner verstorbenen Frau zeigte. Mit frischem Glück tritt er erneut an

London. Wenn Olympia die größte Show der Welt ist, dann gehört das Gewichtheben im Superschwergewicht ganz zweifelsohne zu den Hauptakten. Die starken Männer vollbringen Leistungen, für die einem Normalmenschen schlicht die Vorstellungskraft fehlt. Wenn sie mit ihren Hieben teils über 250 Kilogramm in die Luft stoßen, wirkt auf den Körper fast das dreifache Gewicht.

Noch imposanter wirkt das Spektakel, seit Matthias Steiner mit zur Hantel greift. Das liegt zum einem daran, dass er ein expressiver Heber ist, dass er diese gewisse Aura hat, die den Zuschauer quasi mit auf die Bühne zieht. Oder wie sonst ist es bitte schön zu erklären, dass sich die zwei Frauen seines Lebens in ihn verliebten, als sie ihn beim Gewichtheben im Fernsehen sahen? Zum anderen liegt es natürlich an seiner Lebensgeschichte. Diabetes-Diagnose mit 18, Nationalitätenwechsel von Österreich nach Deutschland, der Verlust der ersten Ehefrau durch einen Verkehrsunfall. Die aufrichtige und unendlich tapfere Weise, mit der er Kraft aus dieser Tragödie zog.

Kaum ein Athlet rührte die Herzen nicht nur deutscher Zuschauer vor vier Jahren so wie dieser Bär von einem Mann, der sich seiner weichen Seiten nicht schämt. Die Szene, wie er bei der Siegerehrung ein Foto seiner verstorbenen Frau neben seine Goldmedaille hielt, wurde augenblicklich ikonisch. Für Steiner war das damals nicht auf Anhieb zu begreifen, er hatte das mit dem Foto auch schon bei früheren Wettkämpfen gemacht, und da hatte es nie jemanden groß interessiert. Aber sein Fremdeln mit dem plötzlichen Ruhm verflog dann recht schnell. Steiner ist prinzipiell ein Menschenfreund, er mag es, "dass die Leute einen Narren an mir gefressen haben".

Er mag es, ein außergewöhnlicher Olympiasieger zu sein. Diesen olympischen Triumph zu wiederholen, versucht heute in London um 20 Uhr ein Mann, der mitten in einem erfüllten Leben steht. Steiner, 29, hat gute Werbeverträge, er hat sich wieder verliebt, wieder geheiratet, einen zweijährigen Sohn. Bei diesen Spielen, die bisher schon viele große Momente produziert haben, aber nicht sehr viele große deutsche Momente, kommt sein Auftritt gerade recht.

Gerade deshalb bittet er um eine gnädige Erwartungshaltung. Denn die Prelude lief nicht so glatt wie vor Peking, als er sich ein Dreivierteljahr minutiös auf den Wettkampf vorbereitete, bei dem er mit 461 Kilogramm eine bis heute bestehende persönliche Bestleistung hob. Vorigen Herbst erlitt der 29-Jährige einen Einriss der Quadrizepssehne oberhalb der Kniescheibe, und das ist die "Herzschlagader eines Gewichthebers", wie sein Trainer Frank Mantek erklärt. Eine Verletzung, die im Grunde das Ende seiner sportlichen Karriere hätte bedeuten können. Steiner musste nach diesem "schwärzesten Moment seiner Karriere" operiert werden, er verlor drei Monate Aufbautraining. Zuletzt hob der 145 Kilogramm schwere Athlet, der für den Chemnitzer AC startet, bei einem Meeting in seiner Heimatstadt Heidelberg nur 410 Kilo. Nur weil ihm sein Arzt sagte, es könnte knapp für London reichen, hatte er die Qual überhaupt auf sich genommen. Aber es klingt nicht allzu optimistisch, wenn er erklärt: "In der Verfassung von Peking würde ich sagen, dass ich den Olympiasieg verteidigen muss. Aber in der bin ich nicht." Die Werte von damals habe er einfach nicht.

Andererseits haben Mantek und er 445 Kilogramm als Startgewicht für den Zweikampf aus Reißen und Stoßen einschreiben lassen. In der geheimnisumwitterten Heberszene, wo einige seit Monaten keinen Wettkampf bestritten haben, ist diese Angabe das einzig verlässliche Indiz. Von elf Startern trauen sich nur Weltmeister Behdad Salimikordasiabi (Iran/455) und Europameister Ruslan Albegow (Russland/450) mehr zu. Dass die Gewichtheber aus Russland und Armenien ohne eine einzige Dopingkontrolle im Training in London starten, hat das deutsche Team verärgert und Steiner "wütend" gemacht, es ist aber vor dem Wettkampf kein Thema mehr.

Kommt Steiner mit halbwegs akzeptablem Rückstand aus dem Reißen, seiner schwächeren Disziplin, ist vieles möglich. Schließlich gilt er als Wettkampftyp - auf zehn Kilo im Reißen und 15 im Stoßen beziffert er selbst den Beitrag des Adrenalins auf der großen Bühne. Unter bestimmten Umständen, sagt Steiner selbst, könne er besondere Leistungen abrufen. Und Olympische Spiele sind die bedeutendsten dieser ganz besonderen Wettkampfsituationen. Derweil kommt auch von Mantek noch eine vielversprechende Aussage über den Kraftsportler: "Es gleicht einem Wunder, dass er wieder so weit ist, wie er jetzt ist." Steiner könne Außergewöhnliches leisten, sagt der Trainer, aber er werde "eine richtige Schlacht" kämpfen müssen. Im Verlauf des entscheidenden olympischen Abends könne sich eine Tür öffnen, "durch die muss Matthias dann gehen".

Inge Steiner, die Frau, die den Gewichtheber wieder glücklich machte, hatte 2008 als Nachrichtensprecherin bei N 24 über die Siegerehrung berichtet. Eine ähnliche Szene wie in Peking werde es aber in diesem Jahr nicht geben, sagte sie der "Welt am Sonntag" in einem Interview. "Das würde ihm auch keiner abnehmen. Das mit Susi war etwas Einmaliges. Das soll auch so bleiben. Und wenn es nichts wird mit einer Medaille, bringt uns das auch nicht um. Er hat ja schon das Größte erreicht." Das neue Leben der beiden soll sich, wenn Matthias Steiner nicht doch wieder Gold holt, jenseits der Gewichtheberbühne abspielen. Sie träumen von einem alten Bauernhaus und einem schönen großen Garten.