Exakt 50 Jahre nach der Unabhängigkeit Jamaikas bekommt Usain Bolt die Goldmedaille im 100-Meter-Lauf

London. Wer über Usain Bolt nur liest, wird ihn kaum mögen. "Ich bin der Beste", sagte er nach dem Rennen. Und dann: "Ich werde nie sagen, dass ich der Größte bin - bevor ich nicht die 200 Meter gewonnen habe." Usain Bolt, vom Boulevard gern "der Blitz" genannt oder auch "Rocket Man", ist tatsächlich der Mann der Superlative. Zwei Millionen Eintrittskarten hätten verkauft werden können; mindestens eine Milliarde Menschen sahen weltweit zu, als der Jamaikaner Sonntagabend kurz vor 22 Uhr Ortszeit seinen Triumph von Peking wiederholte: Gold in 9,63 Sekunden. Es war der schnellste 100-Meter-Lauf aller Zeiten - gleich sieben Läufer blieben unter zehn Sekunden. Doch die anderen waren nur Nebendarsteller. Alle Weltklasse und dennoch deklassiert.

Wer Usain Bolt aber zuhört u n d zusieht, der muss ihn einfach mögen. Seine Sprüche kommen mit einem Lächeln, in seinen Gesten liegt immer auch ein bisschen Selbstironie. Kein Kerl, dem man böse sein könnte. Und so wandelt er sicher über den schmalen Grat zwischen guter Show und Arroganz. So sicher, wie es vor ihm nur Muhammad Ali geschafft hat.

Da kann Michael Phelps noch 20 Medaillen erschwimmen, da können noch so viele Weltrekorde aufgestellt werden: D e r Moment der Spiele gehörte Usain Bolt. Im prestigeträchtigsten Wettbewerb, an dem deutsche Athleten gar nicht erst teilnahmen - sie waren mal wieder zu langsam, um sich für Olympia zu qualifizieren.

Wie schön ist da doch folgende Nachricht: "Ein Stück seiner vierten olympischen Goldmedaille gehört nun auch Deutschland", schrieb die Deutsche Presse-Agentur ohne einen Anflug von Ironie. Genauer gesagt: Das Stück gehört der deutschen Medizin und der Kunststoffindustrie. Denn es war Bayern Münchens Mannschaftsarzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, der den Jamaikaner wieder fit gemacht hatte, als der mit Rückenproblemen im Juli zu ihm kam. "Doktor Müller-Wohlfahrt ist ein großer Mann. Er hat meine Muskeln behandelt, aber er war mehr als ein Arzt für mich", sagte Bolt. "Er hat uns zum Essen eingeladen, hat sich immer um uns gekümmert. Er hat eine sehr wichtige Rolle gespielt." Und dann ist da noch die Sache mit dem "deutschen Boden": Denn die blaue Kunststoff-Laufbahn, auf der die jamaikanischen Sprinter trainieren, kommt von der BSW GmbH aus Bad Berleburg. Das Unternehmen hat auch die Laufbahn im Berliner Olympiastadion produziert, auf der Bolt bei der WM 2009 seine Weltrekorde lief.

Als zuletzt ein deutscher Sportler über 100 Meter die Goldmedaille gewann, brauchte es noch keine Kunststoffe: Armin Hary siegte 1960 in Rom auf einer Aschenbahn. Zu einer Zeit, als Jamaika noch britische Kronkolonie war. Erst zwei Jahre später erlangte der Karibikstaat die Unabhängigkeit: am 6. August. Welch perfekte Inszenierung also, dass Bolt und sein Landsmann Yohan Blake als Zweiter gestern am 50. Jahrestag der Staatsgründung ihre Siegerehrung hatten. Schwer vorstellbar für einen Europäer, welche Bedeutung dieser erneute Triumph für das kleine Land hat, das mit Überschuldung und Armut zu kämpfen hat. Zumal es ja nicht nur Bolt zu feiern gab: Auch Shelly-Ann Frazer-Pryce konnte in London ihren 100-Meter-Sieg von Peking wiederholen, Veronica Campbell-Brown gewann Bronze. Und so wurde Kingston zur Partymeile. "Wir danken Gott für unsere Athleten", sagte Premierministerin Portia Simson Miller.

Und deren Erfolge sind kein Zufall, keine Laune der Natur, die Jamaika einfach nur außergewöhnliche Talente beschert hat. Die Leistungen haben System: Gute Trainer und beste Trainingsbedingungen sorgen dafür, dass die in den Schulen entdeckten Talente beste Entwicklungsmöglichkeiten haben. Und auch ein Usain Bolt ist enorm trainingsfleißig. Dass er bei allem Erwartungsdruck so beeindruckend locker bleibt, ist sein großes Plus.

Dass Bolt diesmal unter Druck stand, dafür hat vor allem sein teaminterner Konkurrent Yohan Blake gesorgt, der ihn bei den jamaikanischen Meisterschaften über 100 und 200 Meter besiegt hatte. Da gab es dann ein Dankeschön vom Champion. "Yohan hat mir einen Weckruf verpasst. Er hat an meine Tür geklopft und gesagt: Usain, es ist das Olympiajahr, wach auf. Ich bin dankbar für diesen Moment, danach habe ich mich wirklich konzentriert."

Und das wird er weiter tun, um über die 200 Meter und mit der Staffel seine Goldmedaillen Nummer fünf und sechs zu holen. Um endgültig zur Legende zu werden. Und ein Sprücheklopfer zu bleiben. Einer, dem man nicht böse sein kann.