Marcel Nguyen steht eigentlich gern im Schatten. Trotzdem genießt er seinen Erfolg

London. Eine ganze Weile versuchte die brünette Unbekannte, sich hinter ihrem Freund zu verstecken. Mit schwarz-rot-goldenen Büscheln um die Handgelenke war sie am Abend im Deutschen Haus von London erschienen, wo der Deutsche Olympische Sportbund gern seine Medaillengewinner präsentiert. Der Turner Marcel Nguyen hatte drei Stunden zuvor sensationell Silber im Mehrkampffinale gewonnen. Nun stand auch Alexa plötzlich im Fokus. Seit zweieinhalb Jahren seien sie zusammen, erzählte sie. Sie stamme aus Ungarn, und, ja, sie habe auf der Tribüne mitgezittert, bis der Coup des Freundes perfekt war. "Ich war sehr nervös, kurz vor dem Nervenzusammenbruch."

Der ganze Rummel an diesem Abend war ihr ein bisschen unangenehm. Auch der Protagonist schien sich an die jähe Aufmerksamkeit um seine Person erst noch gewöhnen zu müssen. Obwohl Nguyen als derzeit einziger Turner den Tsukahara-Abgang vom Barren präsentiert und bereits drei EM-Titel gewonnen hatte, stand er bisher immer im Schatten von Fabian Hambüchen und Philipp Boy. Nguyen hat diese Rolle stets akzeptiert. "Ich stehe gern im Schatten. Eigentlich mag ich Rummel nicht, aber heute genieße ich das, wie ich hier durch die Gegend fliege", meinte er mit einem dicken Grinsen im Gesicht und musste Interview auf Interview geben und sich mit vielen Fans fotografieren lassen.

Bei diesen Olympischen Spielen hatte er die deutschen Vorzeigeturner überholt und leistete danach erst einmal Basisarbeit. Wie sein Name eigentlich ausgesprochen werde, wurde Nguyen gefragt: "Einfach das g weglassen, dann passt das schon", lautete die Antwort. Marcel Van Minh Phuc Long Nguyen, wie der Turner aus Unterhaching vollständig heißt, hat einen vietnamesischen Vater. In dessen Heimat ist der Name keine Seltenheit. Dort wäre der Turner wohl einer von vielen. In Deutschland aber hat sein Erfolg bei den Olympischen Sommerspielen Marcel Nguyen mit einem Schlag zum Prominenten gemacht. Die Zahl seiner Facebook-Follower lag vor Olympia bei 3000. Nach dem Finale wollten sich 48 000 Fans des sozialen Netzwerks "Freunde" von Nguyen nennen dürfen.

Besonders ist wohl gar nicht so sehr die historische Tat, mit der Nguyen dem Deutschen Turner-Bund die erste olympische Mehrkampfmedaille seit 76 Jahren bescherte. Eher ist es seine Art, die aus ihm ein Star werden lassen könnte. Er turnt äußerst elegant, und er weiß sich in der Halle perfekt zu inszenieren. Als er bei der Bodenkür als letzter Turner des Abends auf die Matte trat, hätte er an diesem Druck leicht zerbrechen können. "Ich wusste von vornherein, dass ich der Letzte am Boden bin", erzählte er später. "Ich habe mich nicht verrückt gemacht."

Nguyen brachte seine Kür so souverän über die Bühne, als hätte er schon zehn Olympiafinals bestritten. Der deutsche Turner erhielt 15,300 Punkte für den filmreifen Showdown. Insgesamt kam er auf 91,031 Punkte und musste lediglich dem Japaner Kohei Uchimura (92,690) den Vortritt lassen.

"Das ist schon ein verdammt cooles Gefühl", sagte Nguyen. "Im Wettkampf gucke ich nicht so auf die Wertung, da mache ich einfach mein Ding." Es reichte. Trotzdem schaute er am nächsten Morgen, "ob die Medaille auch wirklich noch da ist". Sie war tatsächlich noch da, wie der Turner nach ausgiebiger Physiotherapie feststellte.

Dass er das gute Stück überhaupt bei diesen Spielen begutachten konnte, lag zu großen Teilen an Valeri Belenki. Der Trainer hatte seinen Schützling zum Triumph in der North Greenwich Arena fast treiben müssen. "Er hat selber nicht daran geglaubt, das sage ich ganz ehrlich", berichtete Belenki später. Er habe ihn quasi "zur Medaille getreten". Es habe dann doch geklappt, "mit Silber sind wir sehr, sehr glücklich". Trotzdem sei einiges zu verbessern. Die mit 13,666 Punkten bewertete Pferdübung etwa war laut Belenki "die schlechteste, die Marcel je geturnt hat".

Bei derlei Kritik aus dem engsten Umfeld sind möglicherweise noch weitere Heldentaten von Nguyen, der sich inzwischen von dem aus dem Fußball bekannten Spieleragenten Jörg Neblung beraten lässt, zu erwarten. Zweimal darf er bei diesen Sommerspielen noch ran, beim Bodenfinale am Sonntag und im Barrenendkampf am 7. August. Und vielleicht darf er danach wieder als Medaillengewinner im Deutschen Haus von London auftauchen.

Angesichts seiner gestiegenen Prominenz dürfte Nguyen dann auch größere Aufmerksamkeit durch Fernsehkameras erhalten. Das sei beim Mehrkampffinale noch anders gewesen, beklagte sein Berater Neblung, der den Wettkampf vor dem Fernseher verfolgt hatte. "Ich kann nicht begreifen, was das ZDF da für Prioritäten gesetzt hat. Von Marcels Sechskampf wurden nur zwei Disziplinen gezeigt." Dafür war in ganzer Ausführlichkeit Fabian Hambüchens Absturz zu sehen - der Superstar kam nicht über Platz 15 hinaus.