Die deutschen Schwimmer könnten zum ersten Mal seit 80 Jahren ohne Medaille bleiben

London. Es gibt sie tatsächlich: Deutsche Fans, die zu den Schwimmwettkämpfen ins Londoner Aquatics Centre pilgern. Sie sind nicht zahlreich und kommen gegen die Lautstärke der Briten, Amerikaner und Asiaten nicht an, aber sie sind härter im Nehmen. Zu feiern hatten sie jedenfalls noch nichts. Und wer noch vor einigen Wochen freudig auf seine Tickets für Donnerstagabend geschaut hatte, war nun ernüchtert. Im olympischen Finale über 100 Meter Freistil, einer der Höhepunkte im Programm, fehlte Britta Steffen, die Olympiasiegerin von 2008. Sie war einfach zu langsam - und ist damit im deutschen Team in bester Gesellschaft.

Das Scheitern der Weltrekordhalterin offenbart schonungslos die Situation des deutschen Schwimmsports. Die Weltspitze fegt in London in einer anderen Liga durchs Wasser. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die deutschen Schwimmer erstmals seit 80 Jahren ohne olympische Medaille bleiben werden. "Unsere Erwartungen sind nicht erfüllt worden", stellt Lutz Buschkow, der Leistungssportdirektor des Deutschen Schwimmverbands (DSV), fest. Nun ist das bei Olympischen Spielen nichts Neues. Die Zeiten, in denen Deutschland eine glorreiche Schwimmnation war, sind längst vorbei. In London gibt es bereits die vierten enttäuschenden Spiele nacheinander.

Schon vor vier Jahren in Peking tröstete Britta Steffen mit ihren beiden Goldmedaillen über die schlechte Bilanz hinweg. Nur Paul Biedermann und eine Staffel schafften es damals neben ihr noch in ein Finale. Erschreckend auch, dass von 1992 bis 2008 die Zahl der Finalplätze rapide zurückging.

Zu Beginn der Spiele waren es noch taktische Fehler, mit denen Biedermann und die 4x100-m-Freistilstaffel der Frauen scheiterten. Doch das Desaster setzte sich fort. Viele Deutsche schafften es wieder einmal nicht, beim Höhepunkt Bestleistung abzurufen. Britta Steffen ist ein gutes Beispiel. Mit ihrer Saisonbestleistung hätte sie sich als Fünfte für das Finale über 100 Meter Freistil qualifiziert, doch die 28-Jährige schwamm ihrer eigenen Zeit aus dem Mai dieses Jahres weit hinterher. "Natürlich ärgert mich das. Der Sport ist eben nicht planbar", sagte sie ratlos. Wirklich verärgert aber klang das nicht.

Nun sei aber nicht alles schlecht, meint der ehemalige Schwimmer Mark Warnecke. "Wir haben keine schlechten Schwimmer, wir haben einige gute Talente", sagte der Olympiadritte von 1996. "Wir haben es aber zum wiederholten Male nicht geschafft, sie richtig vorzubereiten." Mit jeder Abschlussfeier der Olympischen Spiele bietet sich die Chance zu einem Neuanfang. Tiefschläge können Wunder wirken, wie gerade Steffen in ihrer Karriere gezeigt hat. Höhen und Tiefen hat die Berlinerin zur Genüge erlebt - 2005 wollte sie sogar schon aufhören. Doch Steffen ist ein Einzelfall. "Wir können es nicht an einem Kopf festmachen, sondern müssen strukturell viel verändern", sagte Warnecke. "Uns fehlen Individualität und Innovation."

Ob Steffen die Konsequenzen im Verband noch als aktive Sportlerin miterlebt, ist die große Frage. Noch jedenfalls hat sie in London mit den 50 m Freistil (Vorlauf heute 11 Uhr) eine Strecke vor sich - und schiebt die Gedanken an die Zukunft beiseite. Danach geht es mit ihrem Freund Paul Biedermann an die Ostsee. Aber was kommt dann? Die Europameisterschaften 2014 in Berlin spornen an, sogar einen Start über 50 m Freistil bei Olympia 2016 in Rio schloss Steffen kürzlich nicht aus. Vielleicht aber war sie zumindest über die doppelte Distanz in London zum letzten Mal in einem großen Wettbewerb zu sehen: "Ich werde auch nicht jünger. Vielleicht ist meine Zeit einfach vorbei, was die 100 Meter betrifft."

Was ist ihr schon vorzuwerfen? Sie hat alles gegeben, hat "gekämpft wie eine Wildsau", wie sie sagte. Es war einfach nicht genug. Viele Beobachter hat ihre Gelassenheit irritiert. Das sei schließlich "kein Weltuntergang, durch mich ist auch nicht der Weltfrieden gefährdet", sagte sie. Als hätte sie sich auf genau diese Situation vorbereitet. "Es ist überhaupt kein Problem, dass sie das Finale nicht geschafft hat. Das ist Sport. Aber sich dann hinzustellen und es runterzuspielen, und zu sagen, ich freu mich für die anderen und darauf, dass ich das Rennen gucken kann, das finde ich irgendwie unpassend", sagte Franziska van Almsick.

Wahrscheinlich aber ist Britta Steffen gelassener denn je in diese Spiele gegangen, London schien nur noch eine Zugabe zu sein. Den Biss der 15- bis 17-jährigen Schwimmerinnen hat sie wohl nicht mehr.