Kaum jemand hatte die Judoka Kerstin Thiele auf dem Zettel der Medaillenkandidaten

London. Kerstin Thiele strampelte verzweifelt im eisernen Haltegriff ihrer Gegnerin, schnaufte, zerrte, kämpfte besessen um ihre Goldchance - zum ganz großen Coup reichte es für die deutsche Judoka jedoch nicht. Die Bundespolizistin aus Leipzig verlor am Ende eines sensationellen Siegeszuges durch das olympische Turnier das Finale der Klasse bis 70 kg gegen Frankreichs Weltmeisterin Lucie Decosse. Doch kein Grund zur Trauer: Die Silbermedaille ist für die Außenseiterin, deren stärkste Gegner zuletzt immer wieder Verletzungen waren, wie ein persönlicher Olympiasieg. "Wahnsinn, geil!", sagte sie schon Minuten nach der klaren Finalniederlage euphorisch, "ich habe heute Silber gewonnen, der Tag ist grandios gelaufen. Das Ganze war wie im Film." Dann startete sie in eine lange Nacht: "Jetzt wird einfach nur gefeiert!"

Auch ihre Betreuer hatten alles gegeben - im Finale allerdings vergeblich. Bundestrainer Michael Bazynski schrie sich seine Seele aus dem Leib, Verbandschef Peter Frese knabberte seine Fingernägel kaputt. Und sie trauten ihren Augen kaum: Einen Tag nach der nicht unerwarteten Silbermedaille durch Ole Bischof kämpfte die 25-Jährige im perfekten Moment das Turnier ihres Lebens.

"Ich bin einfach nur glücklich, dass sie sich ihren Traum erfüllt hat. Jeder Kampf war ein Finale", sagte Bazynski über Thiele, die lange sein Sorgenkind gewesen war: "Sie hatte so viele Verletzungen. Sie musste einfach mal über längere Zeit gesund bleiben."

"Vielleicht haben mich nicht viele auf der Rechnung, aber ich fahre nicht nach London, um den anderen staunend zuzusehen", hatte Thiele vor den Spielen selbstbewusst angekündigt. Dabei war die EM-Dritte von 2008 und EM-Zweite von 2009 erst auf den letzten Drücker auf den Olympiazug aufgesprungen.

Die Mühe jedenfalls hat sich gelohnt. Gestern bezwang Thiele zunächst Außenseiterin Moira de Villiers (Neuseeland) mit einem Pflichtsieg, doch dann machte die 25-Jährige Ernst. Sie setzte sich nach Verlängerung gegen Anett Meszaros, die starke und wesentlich höher eingeschätzte Vizeweltmeisterin aus Ungarn, durch Kampfrichterentscheid durch und bezwang im Pool-Finale auch die WM-Zweite Edith Bosch (Niederlande).

Gegen die junge Chinesin Chen Fei durchlebte Thiele im Halbfinale schließlich eine Achterbahnfahrt zwischen Wut und Mut, Schmerz und Jubel. Die Chinesin hatte Thiele höchst unangenehm im Gesicht erwischt, und die Deutsche krümmte sich auf der Matte. Ein packender Fight, in dem niemand letztlich punktete. Die Entscheidung der Kampfrichter über Sieg und Niederlage hatte Thiele am Ende nicht mit ansehen können, die Anspannung zerriss sie fast. Thiele blickte zu Boden, und die weiße Fahne ging hoch - ihre Fahne! Thiele, die sonst so standhafte Judoka, haute das fast aus den Socken. Sie brach in Tränen aus, raufte sich die langen blonden Haare, die danach wie wild von ihrem Kopf abstanden. Bazynski, ihr deutlich entspannterer Trainer, musste sie an der Hand halten und von der Matte wegführen.

Silber konnte Thiele keiner mehr nehmen. Dabei war ihr Olympiatraum eigentlich schon geplatzt. Sie hatte es versäumt, sich direkt zu qualifizieren, erhielt aber dennoch den Vorzug vor der Berlinerin Iljana Marzok, obwohl diese in der Weltrangliste besser platziert und auf der europäischen Nachrückerliste als erste Deutsche geführt war. Nach Platz fünf beim Grand Prix in Düsseldorf im Februar sah Bazynski jedoch in Thiele größeres Potenzial.

Vier Jahre nach ihrer ersten EM-Medaille, Bronze in Lissabon, kam Thiele dennoch als krasse Außenseiterin nach London. "Sie hatte gar nicht mehr daran geglaubt", sagt Bazynski. Doch nicht ein Hauch davon war auf der Matte zu sehen. Thiele trat selbstbewusst auf, wie eine Favoritin, nicht wie ein Lehrling. "Als ich gefragt wurde, wer von meinen Frauen eine Medaille holt, habe ich sie genannt", erzählte Bazynski stolz. Die neue Olympiasiegerin Decosse allerdings war gleich mehrere Nummern zu groß. Thiele war dennoch zufrieden: "Das war ein grandioser Tag", rief sie. "Ich habe alle Kräfte mobilisiert. Nach dem Finale war ich kurz enttäuscht, aber Silber ist Wahnsinn", meinte die Leipzigerin strahlend.

Judoka Christoph Lambert dagegen schied gestern in der Gewichtsklasse bis 90 Kilogramm bereits in seinem ersten Kampf aus und war untröstlich. "Das ist für mich eine riesige Enttäuschung", sagte der 27 Jahre alte Niedersachse.