Angelique Kerber gewinnt mit 6:3, 6:7, 7:5 gegen Sabine Lisicki in Wimbledon. Kohlschreiber und Mayer spielen heute im Viertelfinale.

London. Als verbitterte Erstrundenverliererin fuhr sie 2011 aus dem All England Club nach Hause, dachte in ihrem Tennisweltschmerz sogar über einen Abschied aus dem Tourbetrieb der Profis nach. Doch nun, nur ein Jahr später, krönte Angelique Kerber ausgerechnet auf dem einst so ungeliebten Rasenteppich die bemerkenswerteste Aufstiegsstory, die es in der Weltspitze des weiblichen Wanderzirkus in dieser und der vergangenen Saison überhaupt gab: Aus der grauen Mitläuferin mit Weltranglistenplatz 100 ist eine ebenso verblüffende wie souveräne Halbfinalistin der Offenen Englischen Meisterschaften geworden, eine zähe und spielstarke Wettkämpferin, die auch im spannungsgeladenen deutsch-deutschen Duell mit Sabine Lisicki letztlich verdient die Hackordnung durchsetzte, mit einem 6:3, 6:7 (7:9), 7:5-Sieg auf dem ehrwürdigen Centre-Court.

"Es ist unglaublich, dass ich hier im Halbfinale durchstehe. Hier hatte ich auch schon ganz dunkle, ganz schwere Momente als Tennisspielerin", sagte Kerber nach diesem Erfolg im nationalen Kräftemessen, dem Sieg der Nummer eins gegen die Nummer zwei im deutschen Frauentennis. Die Kielerin, die erst ihren fünften Matchball verwerten konnte, trifft nun in der Vorschlussrunde am Donnerstag entweder auf ihre polnische Freundin Agnieszka Radwanska oder die Russin Maria Kirilenko. Schon bei den US Open des vergangenen Jahres hatte Kerber einen sensationellen Siegeszug bis ins Halbfinale inszeniert, doch die Wertigkeit dieses Erfolgslaufs war weitaus höher einzuschätzen, auch im Selbstgefühl der Top-Ten-Spielerin: "Diese Grand-Slam-Ergebnisse zu bestätigen, unter großem Druck, das ist eine ganz andere Genugtuung", sagte sie später.

+++ Deutsche im Halbfinale: Zehnmal Graf, neunmal Becker +++

Dabei schrammte sie in dem Prestigekampf gegen Lisicki nur knapp an einem Albtraum der vergebenen Chancen vorbei, an einem ähnlichen Tiefschlag wie im Finale des Vorbereitungsturniers von Eastbourne, in dem sie fünf Siegpunkte gegen die Österreicherin Tamira Paszek ausgelassen hatte. Genau die Hälfte der Partie im Herzen des All England Club war verstrichen, als Kerber, bis dahin die unumschränkte Spielbeherrscherin, bereits ihren ersten Matchball hatte. Doch den ließ sie mit zu zögerlicher Attitüde und zu vorsichtigen Schlägen genauso aus wie zwei weitere Siegchancen im zweiten Satz bei 5:4 und später im Tiebreak. "Ich war ein wenig geschockt, dass ich das nicht zu Ende bringen konnte. Aber ich habe dann einfach weitergefightet", sagte Kerber, "das war schon ein unheimlich hartes Ding."

Erst recht, weil die Spielerin mit den meisten Saisonsiegen (45) im dritten Satz sogar 3:5 in die roten Zahlen geriet und fast vor dem ernüchternden Wimbledon-Aus stand. Doch so wie sie in den letzten zwölf Monaten irgendwie die Kurve kriegte in ihrer ganzen Tennislaufbahn, drehte und wendete sie auch diesen Centre-Court-Krimi - machte schnell das Break zum 4:5 und erhöhte dann noch einmal das Tempo gegen die nervlich auf einmal schwächelnde Rivalin. Noch einmal nahm Kerber ihrer Gegnerin den Aufschlag ab und servierte das Match sicher zum 7:5 aus - in Richtung einer neuen Wimbledon-Welt, ins Halbfinale. Triumphiert hatte so doch das stärkere Allroundspiel Kerbers über die Wucht und Dynamik Lisickis, die in der Anfangsphase fahrig wirkte - als leide sie unter einem Spannungsabfall nach der Galavorstellung gegen die Weltranglistenerste Maria Scharapowa am Montag.

Der Auftritt der beiden deutschen Fräuleins war nicht der einzige strahlende Moment für das deutsche Tennis an diesem 3. Juli 2012: Denn nach den erfolgreichen Überstunden von Florian Mayer und Philipp Kohlschreiber in ihren Achtelfinalpartien stand eine historische Rekordmarke fest - nie zuvor nämlich waren vier deutsche Profis bei einem Grand-Slam-Turnier in die Runde der letzten acht vorgestoßen, nicht einmal in den goldenen Tenniszeiten von Becker, Graf, Stich und Co. "Das ist eine großartige Bilanz", befand Becker höchstselbst, im All England Club für diverse internationale TV-Stationen im Einsatz, "die deutschen Frauen haben die Männer nach vorne gepusht."

Mayer hatte sich eine prickelnde Viertelfinal-Verabredung am heutigen Mittwoch mit Branchenführer Novak Djokovic durch seinen begeisternden 6:3, 6:1, 3:6, 6:2-Sieg über Frankreichs Tennis-Musketier Richard Gasquet gesichert, Kohlschreiber beendete die Comeback-Story des US-Amerikaners Brian Baker mit einem ebenso makellosen 6:1, 7:6 (7:4), 6:3-Erfolg und zog erstmals überhaupt in ein Viertelfinale bei einem der vier Majors ein. Er spielt heute gegen Tennis-Ali Jo-Wilfried Tsonga. Mayer hatte bei seinem Wimbledon-Debüt als "Gras-Hüpfer" bereits einmal den Vorstoß in den sogenannten Last Eight Club geschafft. "Das ist ein Topergebnis - und gibt allen im deutschen Herrentennis einen wichtigen Schub für den Rest der Saison", sagte Daviscup-Kapitän Patrik Kühnen. Kohlschreiber und Mayer schlagen auch am Rothenbaum (14.-22. Juli) auf.