Vor zehn Jahren schaffte der Skispringer den großen Triumph bei der Vierschanzentournee. Dann brach er zusammen. Jetzt kann er wieder genießen.

Oberstdorf. Es ist fast wie damals. Überall, wo der lange schlanke Kerl auftaucht, drehen sich die Menschen nach ihm um. "Das ist doch der Hannawald", sagt so mancher erstaunt. Und genau der ist es, der dieser Tage in Oberstdorf weilt und auf den Straßen stets eine kleine, aufgeregte Menschenmenge anzieht. Für den 37-Jährigen ist es eine Rückkehr in sein altes Leben - und er kann diese Reise heute genießen, weil er ein zweites Leben begonnen hat. Der Weg dorthin war schwierig für den größten Star unter all den erfolgreichen Skispringern, die Deutschland je hervorgebracht hat.

Für Hannawald ist Oberstdorf "sein Wohnzimmer", wie er sagt. Es ist jener Ort, an dem vor zehn Jahren ein kleines Skisprungwunder seinen Lauf nahm: Die Stadt im Allgäu ist traditionell die erste Station der Vierschanzentournee - auch an diesem Freitag wieder. Hannawald gelang es als bislang letztem Deutschen, sich in die Liste der Gesamtsieger bei dieser so prestigeträchtigen Traditionsveranstaltung einzutragen. Er gewann jedoch nicht einfach irgendwie, sondern schrieb Skisprunggeschichte, als er alle vier Wettbewerbe der Tournee auf Platz eins beendete - das war in den 50 Jahren vor ihm noch keinem Sportler gelungen. Und auch danach bissen sich seine Nachfolger an dem Grand Slam die Zähne aus. In diesem Jahr wird es sehr wahrscheinlich nicht anders sein, auch wenn er sagt: "Ich habe jedes Jahr wieder ein mulmiges Gefühl und bin erst dann ruhig, wenn es bei den Tagesspringen zwei unterschiedliche Sieger gibt. Ich hoffe, dass ich so lange wie möglich der Einzige bleibe."

+++Deutsche Skispring-Adler noch flügellahm+++

Hannawald ist wieder voll drin im Thema, beschäftigt sich mit seiner einstigen großen Leidenschaft, kennt sich mit den neuesten technischen Veränderungen sowie den Stärken und Schwächen der besten Springer aus. Sein Wissen gibt er während der Vierschanzentournee als Experte bei Sky Sport News und in seinem Blog bei Yahoo-Eurosport weiter. Kurz vor Tourneestart verriet er aber schon mal, wer für ihn die besten Siegchancen hat. "Mein Top-Favorit ist der Österreicher Andreas Kofler. Aber auch auf dessen Teamkollegen Thomas Morgenstern und Gregor Schlierenzauer muss man achten", sagt er, freut sich aber vor allem darüber, dass die Überflieger aus Österreich "endlich mal wieder Gegenwind bekommen".

Dass dieser ausgerechnet aus der deutschen Mannschaft weht, stimmt ihn umso freudiger. Zwar verlief die gestrige Qualifikation für das heutige Auftaktspringen (16:30 Uhr, ARD live) eher enttäuschend - Martin Schmitt war als 13. bester Deutscher, Severin Freund wurde 27., Richard Freitag 42., Michael Neumayer schied aus -, dennoch ist Hannawald nach den guten Weltcup-Resultaten in dieser Saison sicher: "Severin Freund und Richard Freitag können mitmischen."

Der 37-Jährige sieht erholt aus, während er erzählt. Gut gebräunt, Dreitagebart, die blondierten Haare mittlerweile kinnlang und hinter die Ohren gesteckt, enges weißes Longsleeve, die Hände in die Jeans gesteckt - ein Modeltyp. Der gewichtigste Unterschied zu der Zeit seines Tourneetriumphes sind die 15 Kilogramm mehr, die ihn bei 1,84 Meter Körpergröße jetzt auf 77 Kilogramm hieven. Das liegt nicht nur am Essen, sondern auch an dem Fitnesstraining, das Hannawalds regelmäßig betreibt.

Er hat lange gebraucht, um in seinem neuen Leben nach dem Skispringen anzukommen. Dass er heute wieder gern an der Schanze steht, funktioniert erst, seit er bei der Suche nach einer neuen Aufgabe im Motorsport fündig geworden ist. 2004 war Hannawald als Skispringer und Mensch am Ende. "Ich habe nur noch die Erwartungen und den Stress gefühlt. Das hat mich ruiniert", sagt er. Hannawald musste sich wegen eines Burn-outs in eine Klinik begeben, 2005 beendete er seine Karriere. "Ich suche mir nie den Mittelweg, bin ein extremer Typ, extrem ehrgeizig, und reize gewisse Sachen bis zum Anschlag aus", versucht er zu erklären, warum es gerade ihn erwischte. Mühsam kämpfte er sich heraus, fand keine Kraft für neue Aufgaben. Jeder Blick zurück war schmerzvoll. "Ich hatte eine vernebelte Zukunft und eine schöne Vergangenheit. Da spricht man nicht gern über eine geniale Zeit", sagt Hannawald.

Mittlerweile aber, wenn er sich wie am Mittwochabend in Oberstdorf die Fernsehbilder seines Triumphes ansieht, erinnert er sich gern - auch wenn er sich das äußerlich nicht anmerken ließ. Denn während immer wieder neue Bilder schreiender Fans, eines vor Freude tanzenden Bundestrainers Reinhard Heß und eines fassungslosen Hannawalds über den Bildschirm flackerten, stand er still und zuweilen regungslos daneben. Nur manchmal, da huschte ein Lächeln über sein Gesicht - ganz so, als spürte er die Anspannung und den Druck von damals noch einmal. "Es war die härteste Arbeit, die ich je gemacht habe", sagt er heute, fügt aber schnell hinzu: "Dieser Tourneesieg hat alles gerechtfertigt, auf was ich verzichtet habe. Es war das geilste Erlebnis überhaupt."

Seine heutige Droge heißt Motorsport, den er vor etwas mehr als zwei Jahren für sich entdeckte. Hannawald, der mit seiner Freundin Alena Gerber in München wohnt, startet zusammen mit dem früheren Formel-1-Fahrer Heinz-Harald Frentzen bei Tourenwagenrennen. Es ist ein Mix aus Leidenschaft und Beruf. Der Ehrgeiz aber, so sagt Hannawald, sei der gleiche geblieben. "Ich sehe aber nicht nur wie damals den Sport. Ich lebe auch das andere Leben, dem ich früher abgeschworen hatte", sagt er - und freut sich auf das erste Springen der 60. Vierschanzentournee. Wenn Sven Hannawald jetzt noch wüsste, dass es wieder keiner schafft, alle vier Wettbewerbe zu gewinnen, könnte er es noch ein bisschen mehr genießen.

Sven Hannwald als Rennfahrer www.abendblatt.de/Hannwald