Vor einem Jahr wurde Diskus-Olympiasiegerin Ilke Wyludda der rechte Unterschenkel amputiert. Heute fängt sie in jener Klinik als Ärztin an.

München. Es gibt Tage, sagt Ilke Wyludda, da sei es kaum auszuhalten, nur ganz schwer. Wenn die Phantomschmerzen wieder da sind wie bei so vielen Menschen nach einer Amputation. Wenn die Nerven falsche Signale senden, einen stechenden Schmerz, manchmal einen brennenden, aber immer einen quälenden aus dem rechten Unterschenkel, so, als ob er noch da sei. "Auch wenn ich weiß, dass es nichts bringt", sagt Ilke Wyludda, "aber an solchen Tagen möchte ich am liebsten meine Prothese nehmen und ganz weit von mir werfen." Mindestens 70 Meter. So weit wie früher den Diskus.

Fast genau ein Jahr ist es jetzt her, dass der Olympiasiegerin von 1996 das Bein unterhalb des Knies abgenommen werden musste. Und am heutigen Donnerstag macht sie einen großen Schritt zurück ins Leben. Die 42-Jährige feiert ihr Comeback bei der Arbeit. Im Krankenhaus von Halle (Saale). Als Anästhesistin. Schmerztherapie - wer kann schon mehr von Schmerzen erzählen als sie selbst?

Ilke Wyludda, das war eine dieser herben, unerschütterlichen Muskelfrauen der Leichtathletik, die wirkten, als könnten sie gar keinen Schmerz kennen, früher, als sie noch auf beiden Beinen durch den Wurfring rotierte. Mit 20 schleuderte sie den Diskus in Neubrandenburg auf 74,56 Meter, das war im Sommer 1989. Kurz danach fiel zunächst die Mauer und dann das ganze staatliche DDR-Sportsystem in sich zusammen, und Wyludda kam kaum noch über die 70 Meter. Das machte natürlich skeptisch, gerade in einem Kraftsport wie dem Diskuswurf, wo viele erwischt wurden. Eine positive Dopingprobe gab es bei Ilke Wyludda aber nie.

Von 1990 bis 1995 holte sie je zweimal EM-Gold und WM-Silber. In Atlanta 1996 kam sie noch einmal auf 69,66 Meter, das reichte zum Olympiasieg, danach lief sie eine Ehrenrunde und scherzte, wie weh ihr diese ewig langen 400 Meter taten. Der Leidensweg, der danach kam, war länger als 400 Meter, und er tat noch mehr weh.

In den vier Jahren bis Sydney 2000 hatte sie mehr als 15 Operationen. Noch 1996 kam die Arthrose im rechten Knie auf, Gelenkverschleiß nach den großen Belastungen. Sie riss sich Kreuzbänder, die Patellasehne, gleich zweimal die Achillessehne. 1997 saß sie vier Monate im Rollstuhl, die Operationswunden heilten nicht so, wie sie sollten. Es gab eine Hauttransplantation, Ilke Wyludda bekam viel Medizin und Tabletten. Legendär ist die Episode von den Europameisterschaften in Budapest 1998, als sie zum Dopingtest gebeten wurde und einen Zettel vorlegte, der die Einnahme von 63 Medikamenten dokumentierte. Wyludda, eine wandelnde Apotheke.

Noch ein großer Wurf blieb aus, eine Medaille kam nicht mehr, dafür 2002 das Karriereende. Doch an den kaputten Beinen gab es weitere Operationen und auch weitere Komplikationen bis zu jener fatalen Blutvergiftung vor genau einem Jahr, gerade als sie mit dem Medizinstudium fertig war. Eine Narbe verheilte nicht, Bakterien drangen ein, befielen den Knochen, breiteten sich weiter aus. Tödliches Organversagen drohte, die Chancen, mit zwei Beinen weiterzuleben, standen fünfzig-fünfzig. Es gab nur eine Wahl, der Unterschenkel musste weg. Und er kam weg. Am 9. Dezember 2010. Das Leiden aber blieb. "Es gab Probleme mit der Wundheilung", sagt Ilke Wyludda, "aber Probleme hatte ich ja schon immer." Noch im April mussten sie am Beinstumpf erneut herumschneiden, dann endlich, Anfang Juni, nach 28 Wochen, durfte sie raus. Heim zu den Eltern, nach Freyburg, 40 Kilometer von Halle, an Pfingsten war sie dann zu Hause.

Es begann die Physiotherapie, die Rückkehr in den Alltag, ganz sachte. Die Wohnung im Mietshaus in Halle wurde umgebaut. "Behindertengerecht", sagt sie. Sie sagt es ganz selbstverständlich, weil sie längst akzeptiert hat, dass sie jetzt behindert ist. Auch wenn das gerade für frühere Leistungssportler, die von der Kraft des Körpers mehr lebten als andere Menschen, oft ganz schwierig ist, Wyludda hat es hingenommen und angenommen. Behindertengerecht sieht nun so aus, dass es etwa keine Teppichkanten mehr gibt, über die sie stolpern könnte, nur noch Parkett, alles ist ebenerdig, auch die Dusche, nur die Treppen steigen muss sie noch. "Ich wohne erste Etage", sagt sie, "da gewöhnst du dich dran."

Jetzt im November war sie erstmals wieder im Urlaub. Im Süden in der Sonne, Fuerteventura, noch einmal durchschnaufen, bevor es nun losgeht mit ihrem neuen Beruf, im "Bergmannstrost", genau jener Klinik, in der sie so lange gelegen hatte. Und wer wäre als Anästhesistin besser geeignet als sie?

"Mit meinen Erfahrungen", sagt sie, "kann ich mit den Patienten ganz anders umgehen als jemand, der mit Krankheiten nie zu tun hatte." Einer wie Wyludda nimmt man es auch ab nach allem, was sie durchgemacht hat. Als Seelsorgerin sieht sie sich, als Psychologin, auch wenn es oft zäh ist, gerade mit den Phantomschmerzen, sich dann Verzweiflung in der Seele ausbreitet wie einst die Sepsis im Bein. Aber dann jammert sie nicht, weil sie das auch noch nie getan hat, sondern sagt: "Das Verzweifeltsein, das gehört zum Leben dazu. Grundsätzlich bin ich guten Mutes." Und dann sagt sie noch: "Ja, mir geht es gut." Sie sagt es ohne falsch aufgesetzte Euphorie. Es klingt einfach ehrlich.

Gut geht es ihr auch darum, weil sie, anders als im letzten Jahr, in gut drei Wochen in Freyburg sein darf, bei den Eltern. Zum ersten Mal ist sie zu den Feiertagen wieder daheim, es brennt dann zu Hause das Licht am Christbaum und nicht eine Kerze am Krankenbett. Weihnachten zu Hause, für Ilke Wyludda ist auch das wieder ein großer Schritt.