Hobbysportler starten bei der Europameisterschaft in Russland - und suchen Nachwuchs

Hamburg. "Das geht einfach nicht", sagt John Jahr sichtlich genervt. Er zieht an einer Zigarette und schüttelt ungläubig den Kopf, als er an einem dunkelbraunen Tisch im Vorraum der Eckelmann-Jahr-Rink-Halle in Stellingen Platz nimmt. "Das darf uns nicht passieren - nicht einer Mannschaft, die bei der Europameisterschaft in Moskau antreten will." Der 46-jährige Skip des Curling Clubs Hamburg ist ehrgeizig. "Man kann ja verlieren", sagt der Enkel des Verlegers John Jahr, "aber verschlafen darf man einen Sieg nicht."

4:5 lautete das Testspielergebnis gegen eine dänische Damenauswahl. Unnötig sei die Niederlage gewesen und ein Beispiel dafür, wie viel Konzentration Curling erfordere. Vom Vorurteil des Langweilersports wollen Jahr und seine Mitstreiter jedenfalls nichts wissen. Viel hänge von Strategie und mentaler Stärke ab. "Curling ist mit einem Golfspiel vergleichbar", sagt Jahr, der in den Sommermonaten selbst auf dem Rasen unterwegs ist, "mindestens 40 Prozent des Erfolgs macht die Psychologie aus."

Dass der Curling Club diese Komponente des Spiels durchaus beherrscht, hat die Mannschaft in den vergangenen Monaten bewiesen. Ende Oktober setzte sich das Herren-Team - bestehend aus Jahr, Felix Schulze, Peter Rickmers, Sven Goldemann und Christopher Bartsch - bei der EM-Ausscheidung des deutschen Curling-Verbandes gegen die Konkurrenz aus Füssen, Oberstdorf und Baden-Hills durch. Eine Überraschung für die Hamburger, die Deutschland nun vom 2. Dezember an in Moskau vertreten werden. Geht es nach den fünf Hobby-Curlern, soll am Ende ein Platz unter den ersten vier herausspringen. "In diesem Fall wären wir für die Weltmeisterschaft qualifiziert", sagt Felix Schulze. Der 31-jährige Rechtsanwalt, der wie seine Mannschaftskameraden durch die Eltern an den Eissport herangeführt wurde, schätzt am Curling vor allem die enge Teambindung und die strategischen Anforderungen des Sports. Als kleiner Junge habe er in der Eishalle immer an Händen und Füßen gefroren, erzählt Schulze. Aber das Gefühl der Kälte ist der Faszination gewichen. "Es gibt kaum vergleichbare Sportarten, bei denen der Bewegungsaufwand relativ gering ist und der Puls trotzdem bei 180 liegt", sagt der frühere Feldhockeyspieler. Der Erfolg, betont er, resultiere aber stets aus dem Zusammenspiel der Charaktere. "Wir haben keinen Trainer", gibt Schulze zu bedenken, "deshalb ist es entscheidend, dass wir nicht nur unsere Stärken, sondern auch unsere Schwächen sehr gut kennen."

Als Grundlage dient den Curlern die enge Freundschaft, die sie seit Jahren pflegen. John Jahr, der Teamälteste, kennt Felix Schulze sogar seit dessen Geburt. Dass sich zur privaten auch die sportliche Harmonie gesellte, bezeichnen die Curler als außergewöhnlichen und vor allem Erfolg bringenden Glücksfall. "Ein eingespieltes Team ist das A und O", sagt Jahr. Und genau solch eine Konstellation aus ambitionierten Leuten zu finden, die sich gut verstehen und über Jahre zusammenspielen, werde immer schwieriger.

Nicht nur in der Hansestadt gibt es Nachwuchssorgen. Momentan fehlt Deutschlands größtem Curling-Klub, der rund 170 Mitglieder zählt, ein Team aus 20-Jährigen und Mittzwanzigern. "Nach der Schulzeit trennen sich häufig die Lebenswege", bemerkt Jahr, "da ist es selten, dass eine Mannschaft zusammenbleibt." Dass auch der Mitgliedsbeitrag im Curling-Club von immerhin 530 Euro für Erwachsene abschrecken könnte, können sich die Spieler indes nicht vorstellen. "In der Schweiz zahlt man das Doppelte", sagt Jahr, "die Kosten für die Halle müssen schließlich auch gedeckt werden."

Doch selbst in der Gunst von Kindern und Jugendlichen steht Curling nur selten an oberster Stelle. Hamburg, vermutet Schulze, biete einfach so viele Möglichkeiten, dass sich die wenigsten für einen Saisonsport in einer Eishalle entscheiden würden. Hinzu kommt, dass sich das Curlingspiel für Zuschauer am Fernsehschirm selten erschließt. "Die Leute fragen sich, warum wir einen gegnerischen Stein nicht sofort aus dem Zielkreis schieben. Dabei ist das Teil der Strategie. Wir denken immer mehrere Schritte voraus", sagt Schulze. Genau dies bleibe dem Publikum trotz guter Kommentatoren häufig verborgen.

Immerhin müssen die Spieler nicht mehr erklären, was Curling genau ist, wenn sie nach ihrer sportlichen Leidenschaft gefragt werden. "Da hat es geholfen, dass Curling inzwischen eine olympische Disziplin ist", sagt Schulze. Den nächsten Schritt auf dem Weg zu mehr Popularität haben Hamburgs Vorzeigecurler in Moskau nun selbst in der Hand.