Vor einem Jahr verlor Isabelle Marquard die Lust am Turnen und flüchtete sich in ein normales Leben. Jetzt ist der Ehrgeiz der Hamburgerin wieder da

Hamburg. Als ihre Tochter plötzlich die Kontrolle über den Barren verliert, schreckt Angela Marquard kurz zusammen. "Jetzt ist es passiert, Mama!", ruft es aus der Schaumstoffgrube am Sportzentrum Angerstraße. Isabelle Marquard streckt ihrer Mutter die Handriemchen entgegen: "Siehst du? Der eine ist breiter als der andere." Nein, mit ihren alten Riemchen wäre ihr das sicher nicht passiert, aber die sind ihr am Mittwoch kaputtgegangen. Und bis die neuen eingeturnt sind, dauert es normalerweise drei bis vier Tage.

So viel Zeit hat Isabelle Marquard diesmal nicht. Heute und morgen tritt sie bei den Hamburg-Gymnastics in der Sporthalle Wandsbek für das Team Hamburg/Wedel an. Ein bisschen habe sie schon gezögert, als sie die Einladung erhalten habe, erzählt sie. Eigentlich hat die 16-Jährige eine Woche Urlaub bekommen, nachdem sie die ganzen Sommerferien über am Sportgymnasium Chemnitz durchgeturnt hatte. Aber weil sie sowieso gerade in ihrer Heimatstadt ist und den Wettkampfmodus mit Vor-, Haupt- und Endrunde "witzig" findet, hat sie schließlich doch zugesagt.

Isabelle Marquard wird nicht ihre schwierigsten Übungen zeigen. "Das Verletzungsrisiko wäre zu hoch", sagt Gabi Frehse. Die Cheftrainerin des TuS Chemnitz-Altendorf braucht ihre Turnerin für das Bundesliga-Finale gegen Stuttgart Ende November in Berlin. Seit dem letzten Wettkampftag am Wochenende weiß sie, dass sie wieder mit Marquard planen kann. Nur einen Fehler hatte die Hamburgerin an den vier Geräten gemacht und am Ende den fünften Einzelplatz belegt. Vor allem aber war die Lust am Turnen wieder da.

Gefunden hat sie Isabelle Marquard in Hamburg. Fast ein halbes Jahr lang hatte sie nichts mehr wissen wollen vom Leistungssport. "Ich habe mich oft mit der Trainerin gefetzt und hatte immer weniger Motivation", erinnert sie sich, "mir wurde der Druck einfach zu groß." Im Herbst vergangenen Jahres meldete sie sich nach fünf Jahren vom Sportgymnasium ab und kehrte nach Hamburg zurück. Sie wollte ein Leben führen wie ein gewöhnliches Schulkind, in dem der Stundenplan und nicht der Wettkampfkalender den Rhythmus bestimmt und in dem Freizeit mehr bedeutet, als einmal pro Woche nachmittags in der Innenstadt unterwegs zu sein, weil dort zufällig das Krafttraining stattfindet. "Sie kannte dieses Leben ja gar nicht", sagt ihre Mutter. Am Gymnasium Dörpsweg in Eidelstedt durfte Isabelle Marquard es kennenlernen.

Gestern Mittag hat sie ihre Klasse wieder besucht. Die Freunde fehlten ihr in Chemnitz, sehr sogar, aber seit dem Frühjahr hat sie wieder das Gefühl, zu dem anderen Leben zu gehören: dem einer Kaderturnerin, die sogar wieder auf die Olympischen Spiele 2012 in London hoffen darf. Olympia sei immer der Traum ihrer Tochter gewesen, sagt Angela Marquard. Frehse will ihn ihr nicht nehmen: "Wenn sie ranklotzt, hat sie eine kleine Chance." Aber sie müsse schon noch ein paar schwierigere Elemente in ihr Programm einbauen, um den Ausgangswert zu erhöhen.

Denn natürlich fehlen Marquard die Monate, in denen sie statt zwei Turneinheiten am Tag nur noch zwei in der Woche absolviert hat, um nicht alles zu verlernen. "Die Isi", sagt Frehse, "hat diese Auszeit gebraucht." Und auch wenn sie sich nach ihrem Salto rückwärts nach Chemnitz im Training manchmal noch schwertue: "Im Wettkampf ist sie erstaunlich cool."

Nur wenn ihre Mutter sie beäugt, wird Marquard nervös: "Dann fühle ich mich beobachtet." Zu vermeiden ist es selten. Angela Marquard, 47, hat eine internationale Kampfrichterlizenz. Auch bei den Hamburg-Gymnastics wird die Luruperin die Übungen ihrer Tochter bewerten. Sie hat Isabelle schon als Krabbelkind mit zum Training ihrer Turngruppen genommen. Irgendwann habe die Kleine angefangen, sich an der Reckstange hochzuziehen. "Aber dass sie einmal in diesen Leistungsbereich vorstößt, damit war nicht zu rechnen." Beibringen könne sie ihrer Tochter schon lange nichts mehr. Mit sechs kam Isabelle Marquard ins Turnzentrum Norderstedt-Harksheide zu Olympiasiegerin Maxi Gnauck. Nachdem deren Trainervertrag auslief, kam der Wechsel nach Chemnitz. Ihr Bruder Jannik, 19, hat sie damals begleitet, er ging als Radsportler ans Internat. "So hatte sie wenigstens ein Stück Familie", sagt Angela Marquard.

In Hamburg habe ihre Tochter kaum eine Chance, ihren Leistungssport artgerecht zu betreiben. Die Schulen nähmen wenig Rücksicht auf die Belange der Athleten, die Gerätelandschaft an der Angerstraße ist dürr, es fehlt an Geld für Trainer. In Chemnitz seien Unterricht und Sport zeitlich perfekt aufeinander abgestimmt, die Klassen klein, die Ausstattung optimal. Auch Isabelles kleiner Bruder Timo, 12, zeigte sich von den Möglichkeiten begeistert. Er würde gern in die Radsportgruppe wechseln.