Mit 24 Jahren ist Sebastian Vettel der jüngste Doppelweltmeister der Formel-1-Geschichte und dabei charmant und gnadenlos zugleich.

Hamburg/Suzuka. Diesmal musste Norbert Vettel, der Vater des Weltmeisters, schon mit zwei jener riesigen blauen Schaumstoff-Handschuhe durch die Boxenanlage in Suzuka tanzen. "Wir haben das Ding", rief er, während er ungefragt jeden in seiner Nähe umarmte. Zwei Vettel-Finger, zwei Weltmeistertitel. Sein rasender Sohn hat sich auch beim Krönungs-Rennen in Japan an den Vorsatz gehalten, der als Ideallinie für sein ganzes Leben gilt: "Schnell sein und schlau" heißt das Erfolgsrezept, mit dem Sebastian Vettel vier Rennen vor Saisonschluss schon wieder Sportgeschichte geschrieben hat. Jetzt ist er mit 24 der jüngste Doppelweltmeister der Geschichte.

Alles auf die Schnelle. Vettel, der Frühreife, hat das Maximalziel der Saison mit der Gelassenheit eines Routiniers erreicht. "Ich bin eben schnell gealtert", sagt er mit einem Grinsen, "auch wenn mir das an der Kinokasse und beim Bierkaufen keiner glaubt." Es mag unziemlich erscheinen, einen zweimaligen Formel-1-Weltmeister zu korrigieren, aber was er wirklich meint, ist: gereift. Das hätte man schon beim allerersten Auftritt 2007 in der Königsklasse ahnen können, als er gleich die Geschwindigkeitsbegrenzung in der Boxengasse überschritt. Seither ist dieser Mann nicht zu stoppen, gewann jedes vierte (19) seiner 77 Rennen. In Suzuka hat er nur noch mit seinen Gegnern spielen müssen, und wer die Leichtigkeit beobachtete, mit der ihm das gelang, der ahnt: Das ist noch nicht das Ende. Schon das brutale Startmanöver gegen Jenson Button legte das Ego des Doppelweltmeisters bloß. Da will sich einer von nichts auf der Welt aus dieser Umlaufbahn, seiner eigenen, bringen lassen.

Dieses Durchsetzungsvermögen, seine vielleicht wichtigste Tugend, erinnert an Michael Schumacher, der dem Land der Autofahrer im Jahr 1994 den ersehnten ersten Formel-1-Weltmeister beschert hat. Ein Habitus, der geschult wurde auf der Kart-Bahn, aber auch durch die Erziehung im elterlichen Handwerker-Haushalt. Fordern und herausfordern, das sind die Eigenschaften, die der Österreicher Helmut Marko, 68, Talentscout beim Brausefabrikanten Red Bull, schon beim 17-jährigen Vettel entdeckte, als der seine ersten Ausflüge in die Formel 3 machte. Und genau das ist das Rezept, das die Red-Bull-Rennwagen seit zwei Jahren zum Branchenprimus der Formel 1 macht. Im besten Auto gewinnen, das könnten vermutlich einige, aber einen Rennwagen kontinuierlich zur Überlegenheit bringen, das ist eine Kunst, die nur eine Handvoll Fahrer beherrscht. Dazu muss man begierig sein, vor allem wissbegierig. "Fehler passieren, vor allem wenn man sich selbst so hart pusht und immer versucht, ans Limit zu gehen", sagt Vettel. "Fehler müssen passieren, sie geben einem die Chancen, etwas zu verbessern. Es ist dann die Kunst, aus den Fehlern so zu lernen, dass sie nicht zweimal vorkommen."

+++ So lief das Rennen im Liveticker +++

Vettel ist seit seinem ersten Titelgewinn ein Jahr älter, aber vor allem reifer geworden. Er band sich erst dann längerfristig an Red Bull, als feststand, dass die entscheidenden Säulen des Teams beisammenbleiben. Er hat seinem Teamkollegen Mark Webber den Schneid abgekauft, ihn vom gleichwertigen Rivalen zum Wasserträger herabgestuft, ist vor unliebsamen Überraschungen aus dem eigenen Team gefeit. Red-Bull-Eigner Dietrich Mateschitz hält Vettel für seine beste Werbemaßnahme. Der erneute WM-Titel wird, wie schon der erste, dem Namen der Dose einen unschätzbaren Imagegewinn bringen. "Solange wir ihm ein siegfähiges Auto hinstellen", weiß der Österreicher, werde Vettel bleiben. Sollte aber eines Tages Ferrari rufen, werde man dem Superstar keine Steine in den Weg legen. Irgendwann wird auch für Multi-Weltmeister Vettel der Mythos stärker sein als der mit Geld und Genie zusammengebastelte Erfolg der Brausebrauer.

Dazu kommt dieser spitzbübische Charme, der den 24-Jährigen neben seinem enormen Talentreservoir zu einer Lichtgestalt der Formel 1 macht. Die spröde Abwehrhaltung eines Michael Schumacher, der niemanden gern nah an sich heranlässt, ist ihm fremd. Auch wenn Vettel sein Privatleben mit aller Konsequenz abschirmt und seine Freundin Hanna, 23, eine Textildesignstudentin, fast nie ins Fahrerlager mitbringt, so hat sich doch der Eindruck des charmanten und sympathischen Jungen von nebenan verfestigt. Da lässt er sich am Vorabend seines Krönungsrennens vom ZDF für das Sportstudio zu einem albernen Tipp-Kick-Torwandspiel überreden, macht es gern und erzielt sogar einen Treffer.

Bei fast allem strahlt dieser Sebastian Vettel eine Leichtigkeit aus, die in seiner verkniffenen und reglementierten Branche selten ist. Im Auto sowieso. Auch wenn er das prompt dementiert: "Leicht? Da muss man schon mal die Ohren anlegen, manchmal bin ich ganz schön am Rudern." Hinter dem Lenkrad vereint er zwei Persönlichkeiten in einem Rennanzug, eine Mischung aus Herz und Hirn, aus Ayrton Senna und Alain Prost, aus Lewis Hamilton und Jenson Button, aus Fernando Alonso und Michael Schumacher. Am wahrscheinlichsten aber eine aus Vettel und Vettel. Vom ewigen Lächeln sollte sich keiner täuschen lassen - eines seiner Erfolgsgeheimnisse ist es, blitzschnell von Spaß auf Ernst zu schalten. Wirklich nur darin ist er die von den englischen Boulevardblättern gern zitierte "German Winning Machine".

Die Suche nach der unheimlichen Überlegenheit in dieser Saison ist im dramatischen Herbst 2010 zu finden, als der bis dahin so brave Herr Vettel dem Rivalen Button ins Auto gerauscht war. Zum ersten Mal hatte das Image des Deutschen Kratzer bekommen. "Crash-Kid" nannten ihn Medien und Konkurrenz. Ein Prädikat, das er in dieser Saison an Lewis Hamilton weitergereicht hat, der mit unterlegenem Material beinahe in jedem Rennen Kleinholz produziert. Die überzogene Kritik hatte Sebastian Vettel so sehr getroffen, dass er in der mehrwöchigen Schmollphase seine mentalen Kräfte neu bündelte. Die vermeintliche Reue war in Wirklichkeit ein cleveres Taktikverständnis. Nicht mehr auf Teufel komm raus drängeln, sondern sich im entscheidenden Moment nach vorn drängen. Die Effizienz eines Champions. "Sebastian hat ein beinahe inquisitorisches Gehirn", lobt das Red-Bull-Technikgenie Adrian Newey, "er ist ein sehr wacher Junge, was er alles an Fähigkeiten in sich vereint, kennt man sonst nur von alten Hasen." Ratschläge, wie sie ihm erfahrene Freunde wie Red-Bull-Statthalter Marko geben, nimmt er - nach reiflicher Überlegung - gern an.

Darüber hat er seinen Platz in der Rennwelt gefunden, über den statistischen Triumph hinaus. Vettel ist eine Respektsperson. Der Vergleich mit dem jungen Schumacher wird gern gezogen, kein Wunder, ist Vettel doch ein Kind des Schumi-Booms. Als Schumacher seinen ersten Titel einfuhr, damals ähnlich rabiat wie Vettel vor einem Jahr, war der Junge aus Heppenheim gerade sieben Jahre alt und hatte daheim an der Bergstraße ein Schumacher-Poster im Zimmer. Inzwischen sind die beiden trotz der 18 Jahre Altersunterschied dicke Freunde - soweit das unter Rennfahrern möglich ist. Aber der Altmeister ist ja auch keine Konkurrenz um Siege oder Titel mehr.

Vettels Seriensiege sind ein Déjà-vu der großen Schumacher-Jahre, als der Altmeister zuletzt 2004 mit 13 Siegen die Vollgasbranche dominierte. Schon basteln Formel-1-Zampano Bernie Ecclestone und seine Mannschaft an Abwehrmaßnahmen. Nichts hassen die Formel-1-Bosse so sehr wie Langeweile. Und weil sie wissen, dass "Sebastian der Beste und in einer Entwicklung noch lange nicht am Ende" ist, muss er eben technisch eingebremst werden. Weil wesentliche Teile der Aerodynamik rund um Auspuff und Diffusor in der nächsten Saison verboten sind, muss Red-Bull-Designer Adrian Newey für das nächstjährige Modell RB 8 ein neues Konzept entwickeln.

Für Vettel nur eine neue Herausforderung. Er hat es sich längst an der Spitze eingerichtet. Und er ist dabei vielleicht sogar noch einen Tick kompromissloser als der väterliche Freund Schumacher. Respekt ist einer der Werte, der Vettel wichtig ist. "Ich denke, man muss sich seinen Platz erkämpfen", sagt er. "Ich möchte für meine Leistung akzeptiert werden." Darüber wird seine Persönlichkeit wohl noch mehr Ecken und Kanten bekommen.

Zunächst tritt ein runderneuerter Vettel auf, mit zwei Titeln und mit doppeltem Selbstbewusstsein. Aber der Schnitt-2,8-Abiturient bleibt doch der große Junge, dem die Rührung die Tränen in die Augen treibt. Wenn er sich "von Herzen" bei "seinen Jungs" bedankt, die ihm den Höhenflug erst ermöglicht haben, dann meint er es auch so. Für ihn ist das Stahlbad der Formel 1 ein Teamsport. Deshalb wollte er den Ersatz für einen von ihm im Training in Suzuka demolierten Frontflügel, der per Express-Luftfracht aus England eingeflogen wurde, auch aus eigener Tasche bezahlen. Für 120 000 Euro.