Hamburgs Sportler des Jahres schwimmt in Berlin auf seinen vier Einzelstrecken an der WM-Norm vorbei. Bruder Markus in Shanghai dabei.

Berlin. Petra Wolfram ist eine Trainerin, die selten die Schuld bei ihren Athleten sucht, sondern, wenn es mal nicht wie gewünscht läuft, meist ihre eigene Arbeit hinterfragt. In Berlin, bei den deutschen Schwimm-Meisterschaften, war für sie dieser Zeitpunkt gekommen. "Vielleicht haben wir ein bisschen zu hoch gepokert, zu lange zu hart trainiert und etwas zu spät die hohe Intensität aus dem Programm genommen", meinte Wolfram.

Grund ihres Zweifelns war das Abschneiden Steffen Deiblers, 23. Hamburgs Sportler des Jahres hatte auf allen seinen vier Einzelstrecken die Norm für die Weltmeisterschaften Ende Juli in Shanghai verfehlt. Sein Titelgewinn über 50 Meter Schmetterling und zwei zweite Plätze über die doppelte Distanz und 50 Meter Freistil blieben für ihn ein fader Trost. Dennoch: Ein Fünkchen Hoffnung besteht. Bundestrainer Dirk Lange scheint gewillt, Steffen Deibler für die WM noch eine Chance zu geben. Die Nominierung der deutschen Mannschaft für China soll heute Nachmittag bekannt gegeben werden.

Grund für einen möglichen Gnadenakt sind Deiblers Zeiten. Sie lagen im Vorlauf über 100 Meter Schmetterling nur sieben Hundertstelsekunden jenseits der Richtzeit, über die Hälfte der Strecke elf Hundertstel. Beide Leistungen gehören in diesem Jahr zu den zehn besten der Welt. Die WM-Norm, Platz elf der Weltrangliste, basierte allerdings auf den Resultaten der vergangenen zwölf Monate. Sie war so hoch angesetzt, weil der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) für die Teilnahme an den Olympischen Spielen 2012 in London im nächsten Jahr ein Top-Ten-Resultat fordern wird. "Da macht es Sinn, die Sportler allmählich an dieses Niveau heranzuführen", sagte Wolfram.

Mit dabei in Shanghai ist aber Deiblers Bruder Markus. Der 21-Jährige gewann die 200 Meter Lagen in neuer deutscher Rekordzeit von 1:58,67 Minuten. Das ist die fünfbeste Zeit, die in diesem Jahr auf der Welt geschwommen wurde. Über 100 Meter Freistil wurde er zudem Dritter, über die doppelte Distanz Sechster. Damit darf er auf einen Platz in beiden Freistil-Staffeln hoffen. Steffen Deibler verpatzte sich mit Platz sieben über 100 Meter Freistil selbst diese Option. Zwei Meter vor dem Anschlag hatte er noch auf Rang vier gelegen. "Ihm fehlte nicht die Kraft, aber etwas die Frische und damit die Endgeschwindigkeit", sagte Wolfram. "Eine Woche später wäre er wahrscheinlich optimal in Form gewesen." Wie viele ihrer Kollegen hatte auch Wolfram ihre Trainingsarbeit eher am Zeitpunkt der WM ausgerichtet und nicht an den nationalen Meisterschaften. Auch die zweimalige Olympiasiegerin und Weltmeisterin Britta Steffen (Berlin) und ihr Freund Paul Biedermann (Halle an der Saale), Weltmeister 2009 in Rom über 200 und 400 Meter Freistil, hatten deshalb Mühe, in Berlin die geforderten Zeiten zu schwimmen. Beiden gelang es erst im letzten Versuch, Steffen bei ihrem Titelgewinn über 50 Meter Freistil Biedermann über die 200 Meter.

"Ich bin erleichtert, dass ich die Qualifikation jetzt habe. Allerdings habe ich mich überschätzt", sagte Steffen.

Die deutschen Meisterschaften gehörten ansonsten den Rückkehrern: Marco di Carli, 26, der nach Motivationsproblemen die vergangenen vier Jahre "ohne Herz und Kopf" schwamm, meldete sich mit Titeln über 50 und 100 Meter Freistil eindrucksvoll zurück. In deutscher Rekordzeit von 48,24 Sekunden blieb der Frankfurter, der bis 2005 in Hamburg trainiert hatte, fünf Hundertstelsekunden unter der alten Bestmarke von Biedermann und führt damit die Weltjahresbestenliste an.

Wieder aufgetaucht nach Elternzeit und bestandenen Uni-Prüfungen ist auch Vizeweltmeister Helge Meeuw (Magdeburg), der sich nach seinem Titel über 50 Meter Rücken über die doppelte Strecke in 53,47 Sekunden endgültig das WM-Ticket sicherte. Mit einer starken Zeit verblüffte Benjamin Starke. Der Berliner unterbot bei seinem überraschenden Endlaufsieg über Steffen Deibler in 51,65 Sekunden deutlich die WM-Norm für die 100 Meter Schmetterling und verdrängte dabei US-Superstar Michael Phelps von Platz eins der aktuellen Weltrangliste.

Bundestrainer Lange zog ein kritisches Fazit der Titelkämpfe: "Einige sind körperlich und geistig noch nicht da, wo sie sein sollten." Auf dem Weg nach China gelte es dieses Defizit durch "gezielte Maßnahmen" abzubauen. Für die unmittelbare Wettkampfvorbereitung "sollten wir die Etablierten alle zusammenführen", überlegte Lange. (rg)