Hamburg/Melbourne. Kann Sebastian Vettel seinen Titel erfolgreich verteidigen? Wie schnell ist Michael Schumacher im Silberpfeil nach einer insgesamt enttäuschenden Vorsaison? Wie gut ist die Konkurrenz von McLaren oder Ferrari? Mit großem Interesse erwarten die Fans den Großen Preis von Australien am Sonntag (8 Uhr MESZ, RTL und Sky live). Der ehemalige Formel-1-Pilot Marc Surer, jetzt Experte des TV-Senders Sky, rechnet jedenfalls erneut mit einer extrem spannenden Saison.

Abendblatt:

Herr Surer, wegen der politischen Unruhen in Bahrain startet die Formel 1 am Sonntag in Australien mit zwei Wochen Verspätung. Wem kommt das zugute?

Marc Surer:

Mein Gefühl ist, dass vor allem McLaren heilfroh darüber ist, dass sie diese Zeit noch bekommen haben. Die wollten zu viel und haben es nicht auf die Reihe gekriegt. Von allen Topteams waren sie am schlechtesten vorbereitet. Aber es ist ein Team, das sich sehr schnell von Rückschlägen erholt. Auch Hispania wird nicht traurig sein. Sie haben es diesmal immerhin geschafft, ihr Auto beim letzten Test in Barcelona zusammenzubauen, auch wenn sie nicht gefahren sind. Im vergangenen Jahr haben sie das erst an der Grand-Prix-Strecke hinbekommen.

Ob der Grand Prix in Bahrain nachgeholt werden kann, ist ungewiss. Zahlt die Formel 1 jetzt den Preis dafür, dass sie dem Lockruf des Geldes gefolgt ist?

Surer:

Nein, es hat auch schon Absagen wegen Finanzproblemen gegeben, wie im Falle des Frankreich- oder des US-Grand-Prix. Wer konnte damit rechnen, dass ein politischer Umsturz durch die arabische Welt geht? Da ist niemandem ein Vorwurf zu machen. Die Absage ist in jedem Fall die richtige Entscheidung, denn wir wären alle gefährdet gewesen. Das Rennen wäre nur unter Polizei- oder Militärschutz durchzuführen gewesen. Das geht nicht.

Wird sich die Formel 1 unter diesem Eindruck wieder stärker ihres Ursprungs besinnen und die finanziellen Daumenschrauben bei den europäischen Rennstreckenbetreibern lockern?

Surer:

Es liegt im Interesse der Teams, ihre Kassen mit Preisgeldern zu füllen. Idealvorstellung wäre, dass ein kleines bis mittelgroßes Team auch ohne Sponsoren überleben kann. Dieses Geld kommt vom Fernsehen und von den Veranstaltern und ist letztlich Verhandlungssache. Schon jetzt zahlen die neuen Rennstrecken, zumal in der arabischen Welt, mehr als die alteingesessenen, insofern ist das nur fair. Standorte, die man haben will, sind billiger als solche, die ein Rennen haben wollen. Das ist Marktwirtschaft. Aber man kann nicht beliebig viele Rennen machen, sonst lässt die Wertigkeit nach.

Wo sehen Sie die Grenze?

Surer:

20 Grands Prix sind zu viel. Die Grenze ist eigentlich schon überschritten. Es darf nicht so weit kommen, dass sich die Zuschauer fragen: Wo fahren die jetzt? Die Namen müssen geläufig sein.

In diesem Jahr rückt Indien neu in den Kalender.

Surer:

Als künftiger großer Automarkt ist diese Entscheidung sicherlich folgerichtig, ebenso wie China, auch wenn die Akzeptanz des Rennens dort begrenzt ist. Aber seien wir ehrlich: Ein Rennen in Bahrain, auch wenn es eine schöne Veranstaltung ist, bringt außerhalb der Insel selbst letztlich niemandem etwas.

Wer hat nach Ihrem bisherigen Eindruck die Nase vorn?

Surer:

Vom Gefühl her würde ich auf Alonso tippen. Ferrari hat im vergangenen Jahr den Anschluss an die Spitze geschafft und ist gut aufgestellt. Sie haben neue Leute von Red Bull und McLaren geholt, was dem Team offensichtlich gut getan hat. Man braucht Alonso nur ein konkurrenzfähiges Auto zu geben, und er fährt es nach Hause. Er ist der kompletteste Fahrer.

Macht es der Weltmeistertitel Sebastian Vettel leichter oder schwerer?

Surer:

Er hat in der Vergangenheit Fehler gemacht, die ihm jetzt, wo der Druck abgefallen ist, nicht mehr passieren sollten. Deshalb glaube ich, dass er besser sein wird als im vergangenen Jahr. Vor allem intern wird er dadurch weniger Probleme haben. Denn dass er schneller ist als sein Teamkollege Mark Webber, das wussten wir immer. Es ist nur zu viel schiefgegangen. Diesmal hat das Auto im Test Standfestigkeit bewiesen. Das wird Red Bull die Freiheit geben, sich früher als in der vergangenen Saison auf einen Fahrer zu konzentrieren, und der kann nur Vettel heißen. Er wird Webber im Griff haben.

2004 sagten Sie uns in einem Interview, die Fahrer hätten es heute leichter als zu Ihrer Zeit. Würden Sie das immer noch so sehen?

Surer:

Nein, heute haben sie zu viele Knöpfe.

Sie spielen auf das wieder eingeführte Energie-Rückgewinnungssystem Kers und den verstellbaren Heckflügel an. Beides soll Überholmanöver erleichtern. Wird das Erfolg haben?

Surer:

Ja, mit einer Einschränkung: Es wird nur noch eine Stelle auf jeder Strecke geben, an der überholt wird. Für den Fahrer hat es künftig keinen Sinn mehr, irgendwo anders durch ein spontanes Manöver ein Risiko einzugehen, wenn man auf der Geraden locker vorbeiziehen kann. Dadurch wird ein bisschen Spannung herausgenommen. Und es benachteiligt Fahrer wie Kamui Kobayashi oder Lewis Hamilton, die in der Lage sind, überall zu überholen. Aber ich erwarte, dass wir vor allem im Hinterfeld lustige Situationen erleben werden, wenn zwei, drei Piloten gleichzeitig den Knopf drücken.

Wird es nur lustig oder auch gefährlich?

Surer:

Auf der Geraden nicht. Es wird taktisch interessant werden. Alles richtig zu machen, vor allem im Umgang mit Kers, ist sehr kompliziert. Die zusätzliche Leistung steht pro Runde nur maximal 6,6 Sekunden zur Verfügung, da muss man es sich richtig einteilen. Man kann im Sinne der Spannung nur hoffen, dass es nicht so perfekt funktioniert wie in der Theorie.

Stellen die vielen Knöpfe ein Sicherheitsrisiko dar?

Surer:

Die Fahrer sind diesbezüglich sehr zurückhaltend. Es sind ja nicht nur Kers und der Heckflügel, die richtig eingestellt werden müssen, sondern auch Differenzial, Gemisch, Drehmoment. Dazu kommen das Schalten und die Bremskraftverstellung, für die Sie die Hand vom Lenkrad nehmen müssen. Und das alles, ohne zu schauen, weil man womöglich im Windschatten des Vordermanns hängt und darauf achten muss, auf welcher Seite er die Tür fürs Überholen zumacht.

Welche Anforderungen stellen die neuen Pirelli-Reifen, die voraussichtlich viel öfter getauscht werden müssen als die bisherigen von Bridgestone?

Surer:

Sie werden stärker abgenutzt, aber das ist nicht außergewöhnlich. Damit kommen die Fahrer eher klar.

Kann Michael Schumacher noch einmal Rennen gewinnen, oder ist sein Comeback nur ein PR-Schachzug?

Surer:

Das Team hat jedenfalls dank neuer Teile Fortschritte gemacht. Mercedes war anfangs weit weg. Jetzt würde ich das Team auf Platz drei einstufen. Das würde bedeuten, dass es sich in Reichweite des Podiums und im glücklichsten Fall auch des Sieges bewegt. Eins ist klar: Wenn Michael die Chance sieht, wird er sie nutzen.

2010 wurde er von seinem Teamkollegen Nico Rosberg klar abgehängt.

Surer:

Das hat auch mich überrascht. Ich sehe zwei Gründe: Zum einen musste sich Schumacher nach der Pause wieder neu orientieren. Zum zweiten lagen ihm die Reifen nicht: Dass Michael mit untersteuernden Autos nicht klarkommt, ist bekannt. Diese Probleme sehe ich jetzt nicht mehr, Michael konnte großen Einfluss auf die Entwicklung des Autos nehmen. Was nicht heißt, dass Nico langsamer ist als er. Die Jugend hat bekanntermaßen bessere Reflexe, dafür hat Schumacher mehr Erfahrung. Abwarten, was schwerer wiegt.

Deutschland ist mit den meisten Fahrern in der Formel 1 vertreten. Ist das ein Ergebnis guter Nachwuchsarbeit?

Surer:

Zum einen sind das die Spätauswirkungen eines Michael Schumacher. Wir werden vermutlich in den nächsten Jahren in Spanien einen Alonso-Boom erleben. In den 80er-Jahren waren es die Franzosen. Aber es hat auch mit Nachwuchsförderung zu tun. Aus der Formel BMW gingen viele gute junge Fahrer hervor: Vettel, Rosberg, Glock. Die Industrie hat durch Schumacher schnell gelernt, dass sich ein Engagement in der Werbewirkung auszahlt.

Wir haben in der vergangenen Saison spektakuläre Unfälle erlebt, die zum Glück glimpflich ausgingen. Ist der nächste Tote nur eine Frage der Zeit?

Surer:

Im Vergleich zu meiner Zeit ist die Formel 1 sicherer geworden. Aber wir haben Riesenglück gehabt. Wenn, wie bei Schumacher, ein Auto auf dem anderen liegt, kann das auch den Kopf betreffen. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass es immer so glimpflich ausgeht. Es ist ein Wunder, dass so viele Jahre nichts passiert ist.

Ist das offene Fahrzeugkonzept nicht ein zu hohes Risiko?

Surer:

Ich frage mich schon, ob die freistehenden Räder nötig sind. Wahrscheinlich braucht es erst wieder einen schlimmen Unfall, bevor darüber nachgedacht wird.

Sie erklären den Sky-Zuschauern seit 15 Jahren die Formel 1. Woher haben Sie das Know-how?

Surer:

Ich wollte Ingenieur werden und mir irgendwann selbst ein Auto bauen. Als ich dann als Fahrer Karriere machte, habe ich das Studium abgebrochen. Aber die Faszination für die Technik ist geblieben, und dieses Wissen gebe ich gern weiter.