Am Sonntag startet die Saison mit dem Rennen in Melbourne. Zahlreichen Regeländerungen verunsichern Teams und Fahrer.

Melbourne. Die Verschiebung des Saisonstarts wegen des Bahrain-Konflikts war so etwas wie ein Omen für die neue Formel-1-Saison, die mit 14-tägiger Verspätung am Sonntag im australischen Melbourne gestartet wird. Das Rennjahr 2011 wird von der Unberechenbarkeit leben, und nicht nur Red-Bull-Manager Helmut Marko erwartet am Anfang ein "ziemliches Durcheinander". Im Fahrerlager herrscht nach den Testfahrten eine erste allgemeine Verunsicherung, keiner weiß, wo er steht. Klar scheint nur, dass sich die Rennen komplett verändern werden. Nerven, Reifen, Auspuff, Bremsen und Taktik sind die Komponenten, die den Champion machen. Es wird das Jahr der Multitasker. Der Schweizer TV-Kommentator und ehemalige Rennfahrer Marc Surer befürchtet gar: "Das ist nicht mehr Motorsport, das wird Mathematik."

Für die Chaos-Theorie sorgt vor allem der neue Reifenmonopolist Pirelli. Die Mischungen aus der türkischen Reifenfabrik der Italiener erwiesen sich in den vergangenen Monaten bei den Testfahrten als tückisch. Erst müssen die Pneus ganz vorsichtig behandelt werden, und nach 15 bis 20 Umläufen verlieren sie abrupt ihre Leistungsfähigkeit, die Rundenzeit fällt dann sofort um bis zu vier Sekunden. Das kann ein ganzes Rennen beeinflussen, von den bisherigen Störfaktoren Safety Car und Wetter (im Albert Park in Melbourne traditionell ausgeprägt) mal ganz abgesehen.

Was bedeutet, dass statt der bislang üblichen Ein-Stopp-Strategien mindestens zwei, eher drei bis vier Boxenhalte eingelegt werden müssen. Das dürfte, da die Reifen ja nicht bei allen Fahrern gleich lang halten, nach dem ersten Renndrittel einen bunten Mix verschiedenster Leistungsfähigkeiten ergeben - durchaus denkbar, dass ein Außenseiter wie HRT plötzlich einen Ferrari überholen kann. Damit wäre genau das Ziel erreicht, dass der Automobilverband Fia und die Teamvereinigung Fota erreichen wollten: mehr Unterhaltung für den Zuschauer.

Kleine Änderungen, große Auswirkungen auch im Cockpit. Zwei Zusatzelemente am Lenkrad sorgen dafür, dass auch der Fahrer die Rennwagentechnik entscheidend beeinflussen kann. Zum einen kann nach einjähriger Pause wieder gewonnene Bremsenergie (Kers) für 6,7 Sekunden pro Runde in 82 Zusatz-PS umgewandelt werden.

Zusätzlich kann von Runde drei an per Knopfdruck an einer zuvor bestimmten Stelle auf der längsten Geraden der Heckflügel waagrechter gestellt werden, wenn sich ein Auto dem vorausfahrenden bis auf eine Sekunde genähert hat. Dieser reduzierte Luftwiderstand soll zwischen fünf und zwölf Kilometer pro Stunde (km/h) mehr Geschwindigkeit bringen und in spektakuläre Überholmanöver münden.

Ungefährlich ist aber auch diese Angelegenheit nicht, die Fahrergewerkschaft insistierte bereits bei Renndirektor Charlie Whiting. Durch den doppelten technischen Einfluss verschieben sich Bremspunkte und -verhalten völlig. Es wird interessant sein, ob die routinierten Fahrer mit dem Multitasking besser klarkommen oder die sogenannte Play-Station-Generation.

Ein Generationskonflikt gar? Wippen, Hebel, Knöpfe, Schalter - angesichts von zum Teil über 30 Verstellmöglichkeiten am Lenkrad mault sogar Sebastian Vettel: "Und nebenher sollen wir auch noch fahren ..." Andererseits: Es handelt sich um einen technischen Sport. "Mehr Möglichkeiten Fehler zu machen bedeutet auch mehr Action", sagt Mercedes-Teamchef Ross Brawn. Trotzdem will der Weltverband die Systeme noch einmal auf den Prüfstand stellen.

Die Reglementseinschnitte, die verstellbare Frontflügel und Doppeldiffusoren am Heck unterbunden haben, führten zu einer ungekannten Vielzahl verschiedener Fahrzeugkonstruktionen. Jedes Team ist auf der Suche nach der großen Idee.

Vereinfacht gesagt geht es den Ingenieuren darum, die Luft schnell und konzentriert unter dem Fahrzeugboden durchzuleiten, um den Anpressdruck zu erhöhen und damit höhere Geschwindigkeiten vor allem in den Kurven zu ermöglichen. Sie nutzen dafür ein bislang wenig beachtetes Teil - den Auspuff. So fallen Renault und Mercedes durch ungewöhnliche Abgasausleitungen (nach vorn und zur Seite) auf - jeweils in Verbindung mit Bestzeiten. Es lebe die Revolution!

Vieles macht Sinn, manches weniger. Wenn es jedoch schon für die Beteiligten selbst kaum noch möglich scheint, bei den zahlreichen Regeländerungen den Überblick zu behalten, wie soll es dann der Zuschauer können?