Zehn Monate nach dem verlorenen Kampf seines Lebens erhebt Steffen Kretschmann Vorwürfe gegen seinen Promoter und startet den Neuanfang.

Halle/Saale. 17-mal ist er den Weg in den Ring als Profi gegangen, viele Dutzend Mal als Amateur, er weiß also, was Lampenfieber ist oder gar Angst. Den Gang, der Steffen Kretschmann heute bevorsteht, empfindet der 30 Jahre alte Schwergewichtler allerdings als ungleich härter. In seiner Heimatstadt Halle an der Saale wird sich Kretschmann heute arbeitslos melden. Er muss es tun, er ist seit Oktober Vater der kleinen Maya Kim, er hat Verantwortung für eine Familie, aber keinen Job. Nicht mehr, seit er am 27. März 2010 den Kampf seines Lebens verlor. Seitdem hat er über das, was danach über ihn hereinbrach, nicht geredet. Zehn Monate lang hat er geglaubt, dass alles doch noch gut wird. Heute will er einen Schlussstrich ziehen und den Neuanfang einläuten.

Steffen Kretschmann ist ein Mensch, der durch sein Äußeres Respekt einflößt. Fast zwei Meter groß, bulliger Oberkörper, kräftige Hände, aufrechter Gang - Schultern zurück, Brust raus. Wenn er spricht, und das tut er an diesem verregneten Wintermittag mehr als zwei Stunden lang fast ohne Pause, dann blickt er seinem Gesprächspartner in die Augen. Er muss kaum nach Worten ringen, er weiß sich auszudrücken, auch wenn sein Akzent ihn Teile seiner Sätze verschlucken lässt. Kretschmann wirkt aufgeräumt, wie einer, der in sich ruht und der einfach froh ist, endlich das herauslassen zu können, was sich über Monate angestaut hat. Es fällt schwer zu glauben, dass es derselbe Mensch war, der am 27. März in der Sporthalle Hamburg in Runde neun einfach aufgab, obwohl ihm sein russischer Gegner Denis Bakhtov eigentlich kaum wehgetan hatte. Der die Chance, auf ein paar Schläge berühmt zu werden, wegwarf.

Warum er das tat, hat damals niemand verstanden. "Ganz einfach", sagt er heute, "ich war auf diesen Kampf nicht gut genug vorbereitet, und als ich das merkte, hat mein Kopf gesagt: Es reicht!" Es fällt schwer zu begreifen, warum ein Sportler auf den Kampf, den er sich gewünscht hatte, nicht vorbereitet sein kann. Kretschmann sollte von seinem Promoter Ahmet Öner zum deutschen Superstar aufgebaut werden, er war für Öners Arena-Stall als Türöffner für einen Vertrag mit dem Privatsender Sat.1 vorgesehen, und er hätte die Scharte auswetzen können, die Bakhtov seinem Kampfrekord zugefügt hatte, als er Kretschmann im Juni 2009 überraschend in Runde eins ausknockte.

Das Problem war, dass Sat.1 Kretschmann auch außerhalb des Rings populär machen und deshalb eine vierteilige Dokumentation mit dem Titel "Der Kampf seines Lebens" senden wollte. Schon in der Vorbesprechung im Dezember 2009 habe er geahnt, sagt der Sportler, dass ihm die Dreharbeiten über den Kopf wachsen würden. "Mein Trainer Hans-Jürgen Witte und ich haben mehrfach gewarnt, dass meine Vorbereitung gefährdet ist und das Ding schiefgeht", sagt er. Bis auf Sat.1-Sportchef Sven Froberg habe niemand Verständnis gezeigt. "Im Gegenteil, die Leute von der Filmfirma Constantin haben mir ins Gesicht gesagt, dass mein Leben langweilig sei und wir da mehr Schwung reinbringen müssten", sagt er. Einige geplante Inhalte habe er abgelehnt, rückblickend jedoch immer noch zu viele Kompromisse gemacht. "Ich dachte, ich packe das schon irgendwie. Aber ich war zu naiv und hätte viel früher die Notbremse ziehen müssen. Ich wollte den Rückkampf gegen Bakhtov unbedingt und habe deshalb die Bedingungen dafür akzeptiert."

Die ehemalige Weltmeisterin Regina Halmich, die Kretschmann für die Doku als Fitnesscoach begleitete, hat die Probleme schon damals kommen sehen. "Steffen war einfach nicht bereit, Dinge zu tun, die man tun muss, wenn man bekannter werden will. Er ist nicht der Typ dafür, ein Star zu sein", sagt sie. Froberg gibt zu, "dass wir uns selbst nicht bewusst waren, welchen Einfluss die Dreharbeiten auf das Training haben würden". Kretschmann sagt, er habe sich von Arena alleingelassen und ausgenutzt gefühlt. "Ich weiß, dass das Geschäft hart ist. Aber letztlich war ich für Arena nur eine Ware, ein Verdienstmittel", sagt er. Man habe ihn nur gebraucht, um einen lukrativen Einstieg in den deutschen TV-Markt zu finden.

Besonders getroffen haben ihn die hämischen Kommentare, die Öner nach dem Kampf machte. Jeder, der wolle, könne Kretschmann haben und ihn ausstopfen lassen, hatte er gesagt. "Ich verstehe, dass er sauer war, immerhin hatte er viele Hoffnungen in mich gesetzt, und ich habe das Ergebnis nicht gebracht. Aber dass man einen Menschen einfach so wegwirft, hätte ich nicht geglaubt", sagt er. Die Tage nach dem Kampf habe er wie in Trance verbracht, im Mai sei er in ein tiefes Loch gefallen. "Ich hatte ein Burn-out. Erst als im Oktober meine Tochter geboren wurde, hatte ich das Geschehene verarbeitet und wieder Kraft geschöpft."

Natürlich hat Kretschmann viel nachgedacht über diesen Abend, der sein Leben veränderte. Die Konsequenzen sind ja auch einschneidend. Der Arena-Stall, bei dem Kretschmann einen Vertrag bis 2014 besitzt, habe ihm bis heute nur die Hälfte seiner Kampfbörse bezahlt. Es fehlt eine mittlere fünfstellige Summe, die er mehrfach einzuklagen versuchte, nachdem erst im September die erste Rate gekommen war. Weil das nichts nützte, hat er nun seine Kündigung eingereicht. "Das Vertrauen ist zerstört", sagt er. Arena-Geschäftsführer Malte Müller-Michaelis hat das Schreiben noch nicht erhalten. Er sagt: "Tatsächlich haben wir noch Diskussionsbedarf über die Börse, weil wir der Meinung sind, dass Steffen seinen Pflichten im Vorfeld nicht voll nachgekommen ist. Aber wir bieten ihm weiter Kämpfe an. Wenn er kein Vertrauen mehr zu uns hat, müssen wir eine Lösung finden."

Weil Kretschmann wie im Profiboxen üblich kein monatliches Gehalt bekommt, sondern pro Kampf bezahlt wird, musste er mittlerweile sein Auto und andere persönliche Gegenstände verkaufen, er konnte die 700 Euro Monatsbeitrag für seine Krankenversicherung nicht mehr aufbringen und deshalb auch keine psychologische Betreuung in Anspruch nehmen, obwohl er überzeugt ist, "dass ich das in der Zeit meines Burn-outs nötig gehabt hätte".

Er hat sich entschlossen, seine Karriere fortzusetzen, nicht bei Arena zwar, aber er hat Angebote und will nun das heraussuchen, was ihm am besten erscheint. "Das vergangene Jahr war eine verpasste Chance, aber auch eine wichtige Erfahrung. Ich will beweisen, dass noch einiges in mir steckt, und ich weiß, dass ich stärker zurückkomme, als ich es je war", sagt er. Steffen Kretschmann glaubt wieder an sich. Jetzt muss er nur noch die anderen überzeugen.