Beim 27:24 gegen Island können die deutschen Handballer erstmals bei der WM überzeugen. Heute gegen Ungarn

Jönköping. Spät am Abend konnte Heiner Brand über die Szene aus der 29. Minute schon wieder lachen: wie er seine grüne Karte auf den Kampfrichtertisch gelegt hatte und der Auszeitpfiff genau in den Moment gefallen war, als der Wurf von Michael Kraus im isländischen Tor einschlug. Es wäre die 16:13-Führung für die deutschen Handballer im ersten WM-Hauptrundenspiel gewesen. "Jetzt bin ich schon so lange Trainer und muss das auch mal erleben, dass ich meinem Spieler ein Tor klaue", sagte Brand, "aber es hatte sich wirklich nicht angedeutet."

In dem Punkt muss man den Bundestrainer in Schutz nehmen. Kraus' Treffer fiel ansatzlos, wie aus dem Nichts. Der Hamburger Spielmacher ist eigentlich bekannt für diese Art Würfe. Nur hatte er von dieser Fähigkeit im Turnier so selten Gebrauch gemacht, dass Brand die Möglichkeit wohl gar nicht mehr ins Kalkül gezogen hatte. Jedenfalls hatte Kraus, der viel Gescholtene, mit der Aktion nicht nur die Isländer überrascht, sondern auch die eigene Mannschaft. Und weil er nicht der Einzige war, blieb Brands Kartenfehler folgenlos. Deutschland besiegte den Olympiazweiten von 2008 mit 27:24 (15:13) und inspirierte den Trainer zu hymnischen Worten des Lobes: "Die Einstellung war sensationell, die Mannschaft hat gezeigt, was in ihr steckt."

Es sah so aus, als hätte der Weltmeister von 2007 den Umzug nach Jönköping zu einem Neuanfang genutzt und die Verunsicherung der Vorrunde zurückgelassen. Er war, als das Spiel zu kippen drohte, nicht in sich zusammengefallen wie bei der knappen Niederlage gegen Spanien und der klaren gegen Frankreich. Vielmehr konnte man beim Stand von 18:18 Holger Glandorf bestaunen, der, kaum auf dem Feld, den Ball so selbstverständlich ins Tor schleuderte, als habe irgendjemand die Zeit um vier Jahre zurückgedreht. Man konnte eine stabile Abwehr erleben und einen Torwart Silvio Heinevetter, der nicht jeden, aber jeden wichtigen Ball parierte. Man konnte den Ball flüssig von Hand zu Hand wandern sehen, bis sich eine Lücke auftat. Brand sagte: "Gegen eine isländische Abwehr hat selten jemand so viele klare Torchancen herausgespielt wie wir." Sein Team hatte die wichtigste Zutat des Erfolgs wiedergefunden: den Spaß am Spiel.

Wenn man später einmal nach dem Wendepunkt in diesem Turnier suchen sollte, so war es wohl der Mittwochabend. Abwehrchef Oliver Roggisch berichtet von einer Art Selbsttherapie: "Nach dem Frankreich-Spiel saßen wir zusammen und haben viele Dinge angesprochen, die wir besser machen wollten." Es sei um das schnelle Spiel nach vorn gegangen, um Gegenstöße, zweite Welle, um grundlegende Dinge, die ein Handballspiel zumeist entscheiden. Von diesen einfachen Toren hatte es in der Vorrunde zu wenige gegeben. Die Müdigkeit hatte die Befehlskette zwischen Gehirn und Gelenken vorübergehend unterbrochen. Gegen die Isländer war die Verbindung wiederhergestellt. Sie wurden regelrecht überrannt, ohne dass technische Fehler, die in der Vorbereitung noch zu zwei Niederlagen auf Island geführt hatten, dem Erfolg im Weg gestanden hätten.

"Wir haben gezeigt, dass wir in der Weltspitze mithalten können", sagte Brand und klang dabei, als habe er selbst schon zu zweifeln begonnen. Der Bundestrainer erinnerte an seine erste Spielergeneration, die auch einen langen Anlauf genommen habe, ehe sie erfolgreich wurde. Von diesem Niveau sei die heutige Mannschaft noch ein Stück entfernt. Sie habe gegen Island an ihre Grenzen gehen müssen: "Viel mehr können wir im Moment nicht leisten."

Kann sie es gegen Ungarn heute (18.15 Uhr/ARD) und Norwegen morgen (16.15 Uhr/ZDF) wiederholen, wird sie ihr Minimalziel Platz sieben wohl erreichen. Er berechtigt zur Teilnahme an einem olympischen Qualifikationsturnier. Um es ins Halbfinale zu schaffen, müsste Spanien oder Frankreich beide ausstehenden Hauptrundenspiele verlieren. Einige hätten im Bus zu rechnen begonnen, erzählte Kapitän Pascal Hens etwas genervt. Dominik Klein gehörte nicht zu ihnen: "Dass wir im schwedischen Lotto gewinnen, ist wahrscheinlicher." Der Kieler kramte stattdessen sein Smartphone heraus und lud sich die Höhepunkte des WM-Tages auf den Bildschirm.