Handballidol Stefan Kretzschmar sieht die deutsche Mannschaft für die am Donnerstag beginnende Weltmeisterschaft in Schweden gerüstet.

Berlin. Bei der morgen beginnenden Handball-Weltmeisterschaft in Schweden ist Stefan Kretzschmar, 37, als Experte und Fan im Einsatz. Für Sport.1 kommentiert er einige Spiele und blickt gleichzeitig gebannt auf die Leistungen der deutschen Auswahl. Der 218-malige Nationalspieler wähnt sie nach dem enttäuschenden zehnten Platz bei der EM vor einem Jahr wieder auf dem richtigen Weg.

Die deutschen WM-Gegner im Kurzporträt:

Abendblatt: Die deutsche Mannschaft reist nach zwei Testspielniederlagen gegen Island und einem Sieg über Schweden bedingt optimistisch zur WM. Was trauen Sie der Auswahl in Schweden zu?

Stefan Kretzschmar: Nach dem Schweden-Spiel war ich recht zuversichtlich. Das spielerische Niveau hat mir imponiert. Die zwei Island-Länderspiele sollte man nicht zu hoch hängen, da hat der Bundestrainer viel experimentiert. Für mich ist die Mannschaft durchaus in der Lage, eine Medaille zu gewinnen.

Wo hakt es noch im Spiel der Deutschen?

Kretzschmar: Überraschenderweise in der Abwehr, die immer eine Bastion im deutschen Spiel war. Da fehlt mir noch die Stabilität, um mit den weltbesten Mannschaften mithalten zu können. Oliver Roggisch hat zuletzt im Klub wenig Spielpraxis erhalten - er aber ist der wichtigste Mann in einer Sechs-null-Abwehr. Die offensivere Fünf-eins-Formation wird wohl nur in Ausnahmefällen zum Einsatz kommen. Vorn sehe ich mit den zurückgekehrten Holger Glandorf und Pascal Hens wenig Probleme, Michael Kraus scheint auch in starker Form zu sein, was sehr wichtig ist.

Der letzte große Erfolg liegt vier Jahre zurück, damals wurde Deutschland Weltmeister. Was lief danach schief?

Kretzschmar: Wenn man sich die Turniere danach anschaut, gab es eigentlich nur einen großen Ausrutscher bei der EM im vergangenen Jahr in Österreich. Da haben die elementaren Dinge gefehlt, das Einmaleins des Handballs. Es gab kein richtig gutes Positionsspiel im Angriff, die Gegner konnten sich viel zu leicht auf die Deutschen einstellen. Ich meine aber, dass wir dieses Problem in den Griff bekommen. Der Bundestrainer hat auf allen Positionen genügend Alternativen, vermutlich hat er sogar den besten Kader in seiner 14-jährigen Amtszeit zur Verfügung. Vom Potenzial her ist das Team stärker einzuschätzen als alle anderen Nationen - mit Ausnahme von Titelverteidiger Frankreich.

An der Vormachtstellung des Olympiasiegers, WM-Titelverteidigers und Europameisters ist also nicht zu rütteln?

Kretzschmar: Die entscheidende Frage lautet, wie hungrig diese Mannschaft noch ist. Einige Spieler haben ihren Leistungszenit bereits erreicht. Schon 2010 haben die Franzosen keinen tollen Handball gespielt, aber am Ende trotzdem die EM gewonnen, weil sie mit Kiels Thierry Omeyer den besten Torhüter in ihren Reihen hatten. Für mich sind sie den anderen Nationen noch immer eine Nasenlänge voraus. Unschlagbar sind die Franzosen aber auch nicht.

Wer kommt für Sie dahinter, ist Deutschland wieder auf Augenhöhe mit den Teams aus Spanien oder Dänemark?

Kretzschmar: Absolut. Zwar stapeln sie jetzt alle tief im deutschen Lager. Aber von den Namen und den Persönlichkeiten her sind wir mit allen Mitfavoriten auf Augenhöhe. Ich sehe keine andere Mannschaft, die individuell stärker besetzt ist als das deutsche Team.

Ein Star der Vergangenheit fehlt allerdings. Überraschenderweise verzichtet Bundestrainer Heiner Brand auf Weltmeister Torsten Jansen vom HSV.

Kretzschmar: Mit dieser Entscheidung hat der Trainer sicher einige Bauchschmerzen. Aber auf Linksaußen hat Heiner Brand eben die Qual der Wahl: Uwe Gensheimer war einer der überragende Spieler der Hinrunde, er spielt eine Wahnsinnssaison, ihn kann man gar nicht zu Hause lassen. Dominik Klein ist eine wichtige Waffe in der Fünf-eins-Abwehr. Für Toto Jansen ist das sicher hart, er hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen und immer Eier gezeigt, wenn es darauf ankam. Jetzt hat sich der Trainer aber für die beiden jüngeren Spieler entschieden, er scheint da konsequent seinen Weg zu gehen.

Jansen war auch als echter Typ für die Mannschaft wichtig, der es nun bis auf Roggisch, Hens und Torwart Silvio Heinevetter an großen Persönlichkeiten, die ein Team auch mal mitreißen können, zu mangeln scheint. Als Sie noch gespielt haben, standen sieben starke Charaktere auf dem Feld.

Kretzschmar: Das hat sich bei uns auch erst langsam nach dem Demutserlebnis bei den Olympischen Spielen 2000 herausgebildet. So ein Prozess dauert vier, fünf Jahre. Wenn ich mir die Nationalmannschaft anschaue, ist sie von der Altersstruktur her so aufgestellt, dass sich einige Spieler durchaus noch entwickeln können und erst in einigen Jahren wahre Persönlichkeiten werden.

Also bietet die Mannschaft vor allem Hoffnung für Olympia 2012?

Kretzschmar: Bis dahin ist der Weg für die meisten abgeschlossen. Da werden einige Spieler ihren Zenit erreicht haben. Deutschland zählt in London für mich zu den absoluten Favoriten.

Für Bundestrainer Brand werden die Spiele 2012 wohl das letzte große Turnier sein. Sind bei ihm nach 14 Jahren Abnutzungserscheinungen erkennbar?

Kretzschmar:

Überhaupt nicht. Er hat Deutschland zurück in die Weltspitze geführt und erneuert die Nationalmannschaft immer wieder. Seine Verdienste für den deutschen Handball sind unbestritten, in der Außendarstellung ist er noch immer der große Superstar. Sollte es allerdings in Schweden ein Desaster geben, muss man auch mal über den Trainer diskutieren dürfen.