Alexander Dimitrenko wirft mit seiner Erklärung Fragen zur Moral im Boxsport auf

Hamburg. Manchmal sind es die kleinen, unbewussten Gesten, die über menschliche Beziehungsgeflechte mehr aussagen, als viele Worte es könnten. Der Seitenblick, mit dem Michael Ehnert gestern im Trainingsgym des Profiboxstalls Universum seinen Nebenmann bedachte, während er ihm ein Glas stilles Wasser einschenkte, war der einer Mutter, die sich um ihr Kind sorgt. Alexander Dimitrenko nahm den Blick nicht wahr, wohl aber das Zeichen, das der Universum-Vertrauensarzt ihm geben wollte. Von jetzt an steht er unter besonderer Beobachtung.

Am vergangenen Sonnabend war der Schwergewichts-Europameister eine Stunde vor seiner Titelverteidigung gegen den Polen Albert Sosnowski in der Umkleide der Schweriner Kongresshalle zusammengebrochen. Gestern lieferte der 28-Jährige die Erklärung für seinen Kollaps. Er habe seit vergangenem Dienstag unter Durchfall gelitten, als Gegenmaßnahme seine Nahrungsergänzungsmittel abgesetzt, am Kampftag nur eineinhalb statt der üblichen drei Liter getrunken und sei deshalb, dehydriert und mit Mineralstoffmangel, bewusstlos geworden.

"Dass ich den Durchfall allen verschwiegen habe, war ein Fehler und unprofessionell von mir. Dafür möchte ich mich bei allen Beteiligten entschuldigen", sagte der immer noch blasse gebürtige Ukrainer kleinlaut. Es war indes weniger seine Entschuldigung, die aufrüttelte, als die Begründung für das Verschweigen. Er habe "Angst gehabt, dass man mich wieder für ein Weichei hält, wenn ich einen so wichtigen Kampf wegen Durchfall absage", gab Dimitrenko zu. Diese Aussage gibt einen fatalen Einblick in die Gefühlswelt eines Sportlers, der den Anforderungen seines Berufs nicht gewachsen zu sein scheint.

Dimitrenko gilt unter Insidern schon länger als sensibler Mensch, dem die nötige Härte fehlt, um den Weg in die Weltspitze zu schaffen, die er ob seines Talents durchaus erreichen könnte. Von seinem Promoter Klaus-Peter Kohl war er zum Start seiner Profikarriere im Jahr 2001 als Nachfolger der Klitschko-Brüder gehandelt worden. Als er im Juli 2009 jedoch dem US-Amerikaner Eddie Chambers unterlag, brachen alle Dämme. Von Medien und Kollegen wurde er als Weichei verspottet, weil er sich vom 15 Zentimeter kleineren Chambers hatte vorführen lassen.

Was es bedeutet, dieses Etikett in einer der härtesten Sportarten der Welt mit sich herumtragen zu müssen, haben schon viele Boxprofis erfahren. Einer von ihnen ist Torsten May, 41. Der ehemalige Cruisergewichts-Europameister, der heute in Köln eine Boxschule betreibt, war 1996 auf Mallorca von Adolpho Washington (USA) verprügelt worden und hatte ein gutes Jahr später einen Kampf gegen den Schweizer Stefan Angehrn aufgegeben, weil ihn nach schweren Treffern die Erinnerungen an Mallorca komplett blockierten. "Im Boxen muss man immer Stärke zeigen, darf sich keine Blöße geben. Aber es gibt Situationen, in denen man seine Angst nicht ohne Hilfe überwinden kann. Deshalb rate ich Dimitrenko, mit einem Psychologen zu arbeiten", sagt May.

Trainer Michael Timm, der über Dimitrenkos Verhalten "enttäuscht und verärgert" ist, seine Beweggründe aber nachvollziehen kann, rät seinem Schützling ebenfalls zu diesem Schritt. "Es ist heutzutage doch kein Zeichen von Schwäche mehr, wenn man sich psychologisch betreuen lässt", sagt er. Das sieht Fritz Sdunek, bis zu seinem gesundheitsbedingten Rücktritt Ende 2009 Chefcoach bei Universum und Trainer Dimitrenkos, ebenso. "Der Druck, den sich Boxer selbst machen, ist größer als der, der von außen kommt", sagt er. Universum-Chef Kohl will in Zukunft verstärkt auf die Sorgen seiner Sportler achten. "Ich kann nur appellieren, offen über alles zu sprechen. Keiner muss Sorge haben, dass wir ihn nicht ernst nehmen", sagt er.

Heiko Hansen hört solche Sätze mit gemischten Gefühlen. Seit 2006 ist der Bramstedter Mentaltrainer mit der psychologischen Betreuung der Universum-Profis beschäftigt, allerdings wird er nur tätig, wenn die Sportler es wünschen. Dimitrenko hatte bei ihm im vergangenen Jahr angefragt, dann aber doch einen Rückzieher gemacht. "Es geht nicht darum, Schwächen zuzugeben, weil jeder Mensch Schwächen hat. Es geht darum, sie zu erkennen. Erst wenn Dimitrenko dazu wirklich in der Lage ist, kann er sich mithilfe eines Mentaltrainers verbessern", sagt er.

Der Kampf gegen Sosnowski, hieß es gestern, solle so schnell wie möglich nachgeholt werden. Die Show muss weitergehen. Auch wenn Dimitrenko dazu wohl noch gar nicht bereit ist.