Die deutsche Skirennläuferin düpiert ihre US-Rivalin gleich zweimal in der Abfahrt und übernimmt die Weltcupführung

Berlin. Lindsey Vonn wahrte die Fassung, natürlich, und sie lächelte weiter, während sie kaum merklich den Kopf schüttelte. Es wurde eines von diesen Das-gibt's-doch-nicht-Lächeln, denn einige Meter entfernt von der Amerikanerin war just Maria Riesch ins Ziel geflitzt gekommen. Und plötzlich leuchtete auf der Anzeigetafel die Eins vor deren Namen auf, nicht mehr vor Vonns: Zum zweiten Mal in zwei Tagen hatte die Deutsche sie in Lake Louise (Kanada) in einem Abfahrtslauf auf Rang zwei verwiesen - ausgerechnet in jener Disziplin also, in der sie vorigen Winter sechs von acht Weltcuprennen gewann und in Vancouver Olympiasiegerin wurde.

Im Wettstreit um den vierten Gesamtweltcupgewinn in Folge muss es Vonn ("Es ist etwas schmerzhaft, wieder mit einer Zehntelsekunde zu verlieren") so vorgekommen sein, als wildere Riesch plötzlich in ihrem Revier. Während die US-Amerikanerin selbst in der Saisonvorbereitung an ihrer Explosivität und Agilität für Slalom und Riesenslalom - ihre schwächeren Disziplinen - gefeilt hatte, legte ihre befreundete Rivalin der Rennpiste im Sommer einen Schwerpunkt auf Tempotraining. Ein Schlüssel zum momentanen Erfolg, der sie an der Spitze der Gesamtweltcupwertung stehen lässt.

"Es ist ein Superstart in die Speedsaison", sagte Riesch mit Genugtuung: "Dass ich Lindsey zweimal schlagen konnte, macht mich sehr stolz." Zumal Vonn in Lake Louise bereits siebenmal triumphiert hatte. Es gelang ihr am gestrigen Abend dann doch ein achtes Mal: Im Super-G konnte Vonn die zweitplatzierte Deutsche um 83 Hundertstelsekunden distanzieren.

Längst deutet sich an, dass erneut zuvorderst die beiden dominierenden Skirennläuferinnen der vergangenen Jahre das Duell um den Titel der Vielseitigsten im Weltcup unter sich ausmachen werden. Und momentan liegen die Vorteile augenscheinlich bei der Deutschen. Riesch gleichwohl wiegelt bei aller Freude ab: "Ich lasse mich jetzt nicht einlullen, ich habe die Lindsey immer auf der Rechnung. Sie wird bestimmt zurückschlagen", glaubt sie. Die Bestätigung sollte bekanntlich schon tags darauf im Super-G folgen.

Zumal Rieschs zweiter Abfahrtstriumph am Sonnabend der Tatsache geschuldet war, dass Vonn viel Zeit durch einen Beinahesturz verlor. Wenn man so möchte, bekam die 26-Jährige im mittleren Streckenabschnitt den Nutzen ihres extraharten Fitness-Sommerprogramms vor Augen geführt: In einer schnellen Linkskurve verloren ihre Skier kurzzeitig den Kontakt zum Schnee, und "auf einmal lag ich auf der Hüfte und dachte, gleich lande ich im Zaun, und: Komm wieder hoch, komm wieder hoch!" Eine schwere Verletzung hätte niemanden verwundert.

"99 Prozent aller Fahrerinnen", unkte US-Speedtrainer Chip White, "wären in den Zaun gerauscht, aber Lindseys Athletik war phänomenal". Wohl oder übel resümierte Vonn: "Ich bin heute mit einem weiteren zweiten Platz zufrieden." Ihrer knapp verhinderten Havarie gewann sie sogar noch Positives ab: "Es gibt mir eine Menge Selbstvertrauen zu wissen, dass ich tatsächlich fallen und dennoch aufs Podest kommen kann."

Sicherlich jedoch wird die elfmalige Weltcupsiegerin des vergangenen Winters ihre Schlüsse für die Verteidigung der großen Glaskugel ziehen. Nach vier von 20 Stationen des WM-Winters stand Riesch mit zwei Siegen, drei zweiten Rängen sowie einem fünften und einem neunten Platz deutlich besser da. "In den letzten drei Jahren hatte ich keine Chance, weil sie so dominierend in Abfahrt und Super-G war", sagte Riesch über Vonn. "Ich hatte gehofft, dass ich aufschließen kann in der Abfahrt, denn letztes Jahr war ich auf dem richtigen Weg, aber nicht oft genug." Dass sie ihre Zweifel früh besiegt hat, ist für Riesch viel wert. "Fürs Selbstbewusstsein sind gute Ergebnisse am Saisonanfang wichtig." Schließlich: "Jeder Punkt ist wichtig." Ihre prima platzierten Teamkolleginnen in der Abfahrt, Gina Stechert (8.) und Viktoria Rebensburg (11.), werden nicht widersprechen.

Bei den Männern wurde das Weltcup-Wochenende vom Comeback des ehemaligen Weltmeisters Daniel Albrecht überstrahlt. Fast zwei Jahre nach dem schweren Trainingssturz von Kitzbühel startete der Schweizer beim Riesenslalom in Beaver Creek (USA). Im Ziel des ersten Durchgangs hatte er 1,75 Sekunden Rückstand auf den führenden Amerikaner Ted Ligety.