Noch nie hat ein Fünftligist im Pokal gegen einen Bundesligisten gewonnen. Der SC Victoria kann gegen den VfL Wolfsburg Geschichte schreiben.

Hamburg. Sensationen gab es in der Geschichte des DFB-Pokals viele. Mit der Niederlage des HSV beim Oberligisten VfB Eppingen fing es 1974 an. Viele erinnern sich auch an die Blamage des FC Bayern München beim Viertligisten SC Magedburg im Jahr 2000. Zuletzt erwischte es den FC St. Pauli, der im August bei Regionalligist Chemnitzer FC verlor. Eines gab es aber noch nie: Den Sieg eines Fünftligisten gegen einen Bundesligisten. Nicht nur deshalb hat Oberligist SC Victoria Hamburg heute eine historische Chance. Die kleinen Nachwuchskicker des SC nahmen den Mund bereits ganz schön voll. „Ihr könnt nach Hause fahr'n“, skandiert das Dutzend Dreikäsehochs vor einem Wolfsgehege, während die wilden Raubtiere jenseits des Zauns ein klägliches Geheule anstimmen. „Kleine Hamburger ärgern die Wölfe“ heißt der halbminütige Trailer, mit dem der Oberligist aus der Hansestadt sich und seine Fans im Internet auf das heutige DFB-Pokalspiel (19.00 Uhr/Sky und im Liveticker auf abendblatt.de) gegen den Bundesligisten VfL Wolfsburg einstimmt. Die Botschaft: Vicky, wie der Klub in Hamburg nur liebevoll genannt wird, hat keine Angst vor den Wölfen.

Das Spiel, das aus TV-Übertragungsgründen im Millerntor-Stadion des FC St. Pauli stattfinden wird, ist die ungleichste Begegnung der zweiten Pokal-Hauptrunde und vor der Papierform eine klare Sache. „Eigentlich haben wir keine Chance“, sagt Victoria-Coach Bert Ehm, um sich sofort selbst zu korrigieren: „Wenn wir einen guten Tag erwischen, ist die Sache aber nicht aussichtslos.“

Einen solchen Glanztag erwischte der hanseatische Traditionsklub von 1895 in der ersten Runde, als man völlig überraschend den Zweitligisten Rot-Weiß Oberhausen mit 1:0 aus dem Wettbewerb warf. Doch der Ex-Meister aus Wolfsburg ist noch eine andere Hausnummer, wie auch Ehm weiß: „Wenn die ein schnelles Tor machen, sollte das gegen uns reichen. Wenn nicht, haben wir eine Chance.“

Im Kader von Victoria finden sich immerhin ein paar aus der Bundesliga bekannte Namen. Trochowski, Bajramovic und Rahn heißen einige der Hoffnungsträger des Fünftligisten - allerdings sind Christoph Trochowski, Jasmin Bajramovic und Stephan Rahn jeweils die jüngeren Brüder der international erfahrenen Piotr Trochowski, Zlatan Bajramovic und Christian Rahn.

Und doch gibt es zumindest einen im Kader des Außenseiters, der so etwas wie Profi-Erfahrung mitbringt. Mittelfeldspieler Roger Stilz spielte in seiner Schweizer Heimat beim FC Baden, dem SC Kriens sowie in Liechtenstein beim FC Vaduz. Bei Victoria ist der Routinier zugleich Co-Trainer. Er sieht die Begegnung mit dem haushohen Favoriten aus der VW-Stadt eher als Belohnung für die erfolgreiche Arbeit der vergangenen Jahre, in denen der Verein viermal Oberliga-Meister wurde: „Das Spiel gegen Wolfsburg ist ein Bonbon.“

Dass sich der Gegner aber keineswegs vernaschen lassen will, ist ebenfalls in einem Internet-Video nachzusehen. Darin sind erneut die frechen Fußball-Minis von Victoria vor dem Wolfsgehege zu sehen. Doch diesmal erscheint VfL-Coach Steve McClaren auf der Bildfläche und öffnet das Gatter. Untertitel der filmischen Retourkutsche aus Wolfsburg: „Die Jagd beginnt ...“

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Stephan Rahn schlägt vor, Nudeln essen zu gehen. "Dieses Spiel ist wichtig", sagt der Fußballspieler des SC Victoria. "Da muss ich besonders auf meine Ernährung achten." Rahn, 28, ist kein Profi. Selbst vor diesem großen Spiel der Vereinsgeschichte muss er seinem Beruf nachgehen. Korrekt in Anzug und Krawatte gekleidet, verkauft er in Othmarschen Autos.

Deshalb redet er in der Mittagspause auch nicht nur über das DFB-Pokalduell seines Oberligaklubs heute Abend um 19 Uhr am Millerntor gegen den VfL Wolfsburg, den deutschen Fußballmeister von 2009, sondern über das Preis-Leistungs-Verhältnis der Marken Renault und Dacia, die Arbeit auf Provisionsbasis und die 40-Stunden-Woche, "die auch mal länger wird". Er muss gut verkaufen, "sonst kann ich nicht pünktlich beim Training sein. Unser Trainer Bert Ehm hat dafür Verständnis".

Beim Italiener bestellt Stephan Rahn Gnocchi arrabiata und ein Wasser. Dutzende Menschen sitzen auf kleinen braunen Hockern, der Kellner verwechselt gleich zweimal die Bestellung. Rahn bleibt höflich und freut sich, als sein Essen schließlich auf dem Tisch steht.

"Realistisch gesehen haben wir keine Chance", beginnt Rahn die Abwägung, ob eine weitere Fußball-Sensation möglich sein könnte - und unwillkürlich muss an dieser Stelle wohl jeder nicken, der sich für einen Fußballexperten hält. Der VfL Wolfsburg arbeitet nicht zuletzt wegen seines Hauptsponsors VW mit einem Etat von rund 60 Millionen Euro, der fünftklassige SC Victoria muss mit einem Tausendstel dieser Summe auskommen: 60 000 Euro. Ein Sieg gegen Wolfsburg würde alleine an Fernseh- und Bandengeldern fast das Zehnfache des Etats bringen. Und während die Profis um Diego jeden Tag mehrere Stunden trainieren und dafür mit Millionengehältern entlohnt werden, muss das Team von der Hoheluft arbeiten gehen. Ohne Ausnahme. Die Spieler erhalten zwischen 50 und 100 Euro Grundgehalt, kommen, wenn es gut läuft, mit Provisionen auf rund 400 Euro im Monat. Derzeit klappt das nicht mal ansatzweise, da Victoria in der Oberliga häufig verliert.

Und doch glaubt auch der realistisch-skeptische Rahn an seine Chance. Und sagt drei Sätze, die nachhallen. "Wir vertreten den gesamten Hamburger Amateurfußball. Dieses große Spiel ist unsere Bühne. Das ist das, was viele von uns immer wollten." Ob Sven Trimborn, der ehemalige Jugend-Nationalspieler, ob Jan Melich, der einst bei Hannovers Amateuren kickte, oder Torwart Florian Ludewig, der als Pokalheld im Spiel gegen Oberhausen Außenseiterchancen auf einen Einsatz besitzt und sich einst in Bremens zweiter Mannschaft versuchte - der SC Victoria hat einige Spieler, denen man eine große Karriere zutraute. Und die es dann doch nicht ganz schafften.

Auch Rahn gehört dazu. In der Jugend spielte er sieben Jahre bei St. Pauli, wechselte dann zum HSV, schaffte dort aber nicht den großen Sprung. Schließlich ging er mit 21 zum SC Concordia in die Oberliga, gab seinen Traum aber nie auf - und scheiterte. Als ein Wechsel zum norwegischen Erstligaklub Odd Greenland nicht klappte, war ihm klar: "Mit dem Profitum wird es für mich nichts mehr."

Jetzt gilt Rahn, der mit Victoria in fünf Jahren viermal in Folge Meister wurde und mehr als 100 Tore erzielte, an der Hoheluft als Freistoßkünstler mit einem genialen linken Fuß. "Ich glaube, weil hier viele spielen, die auch höher hinaus wollten, haben wir eine ganz besondere Gemeinschaft", sagt Rahn. Auch wenn Tore "nie das Wichtigste" waren, träumt er natürlich von einem Freistoßtor gegen Wolfsburg.

Und so wird Rahn auch heute um viertel nach sieben aufgestanden sein und neun Stunden gearbeitet haben, wenn er am Abend zum Millerntor fährt. Und wenn es wie gegen Oberhausen wieder einen Freistoß in Strafraumnähe gibt, "werde ich hingehen, schauen wo der Torwart steht und alles geben, um den Ball reinzuhauen".

Was die Arbeit betrifft, kann er ganz beruhigt sein. Verkaufsleiter Mirko Strecker sagt: "Ich vertrete ihn, während er ganz Hamburg am Millerntor vertritt." Und weiter: "Seine Leistung bei uns ist sehr gut. Und ich bin überzeugt: Das wird morgen auf dem Platz nicht anders sein."