Als erster Weißer knackte Christophe Lemaitre die Zehn-Sekunden-Marke über 100 Meter. Bei der EM trifft er auf den Briten Dwain Chambers.

Berlin. Am besten passt als Titel wohl: "Der Nette und das Biest". Denn unterschiedlicher könnten die beiden schnellsten Sprinter Europas des Jahres 2010 wohl nicht sein. Zeitlich liegt gerade mal eine Hundertstelsekunde zwischen Christophe Lemaitre, 20, und Dwain Chambers, 32. 9,98 Sekunden ist der Franzose am 9. Juli in Valence über 100 Meter gelaufen, ein paar Wochen vorher rannte der Brite die Strecke in 9,99 Sekunden.

Doch bevor die beiden schnellen Männer heute bei der Leichtathletik-EM in Barcelona in den Vorläufen starten - das Finale findet morgen Abend (21.45 Uhr) statt -, sagt Lemaitre: "Favorit ist Chambers, weil er viel mehr Erfahrung hat."

Das ist typisch für Lemaitre, der als erster Weißer überhaupt unter zehn Sekunden gelaufen ist. Bloß keine großen Sprüche klopfen. Doch auch von Chambers sind keine Kampfansagen zu hören, er spricht generell von "Respekt vor den starken Gegnern". Also doch zwei gute Jungs? Nein, Chambers ist eher der "Bad Boy" des Sprints. Immer wieder erklärt er zwar, er sei geläutert, habe die "Fehler eingesehen" und hoffe, dass aus diesen Fehlern "die Jugend etwas lernen kann". Dennoch ist er für viele nach wie vor eine Persona non grata, seit er wegen Dopings von November 2003 an zwei Jahre gesperrt war.

Das muskulöse Großmaul war als Kunde des berüchtigten Dopinglabors Balco aufgeflogen. Der EM-Titel 2002 über 100 Meter wurde ihm aberkannt, noch immer stottert er die Prämien ab, die er 2002 und 2003 gewonnen hatte - und die er an den Weltverband IAAF zurückzahlen muss. Insgesamt sind das mehr als 154 000 Euro. Nach der Sperre folgte ein Comeback, Chambers klagte sich zurück ins britische Team, sprach von Selbstmordabsichten , veröffentlichte eine Biografie ("Race Against Me"), bezichtigte darin Lord Sebastian Coe, den Cheforganisator der Olympischen Spiele 2012 in London und IAAF-Vizepräsident, des Ehebruchs. Inzwischen ist Chambers einigermaßen gelitten in der britischen Leichtathletik-Mannschaft, hat er doch jeweils Gold bei der Hallen-EM 2009 und der Hallen-WM 2010 gewonnen.

Die Veranstalter der Meetings jedoch lassen ihn nicht laufen. Erst kürzlich fragte sein Manager beim Internationalen Stadionfest Istaf in Berlin wegen einer Startmöglichkeit nach. Die Ablehnung kam prompt. 22 000 Euro an Start- und Siegprämien aus dem Jahr 2002 ist Chambers den Berlinern schließlich noch schuldig.

Der junge Christophe Lemaitre hingegen wird überall mit Kusshand genommen. Auf einen wie ihn scheinen alle gewartet zu haben. Die Story vom ersten Weißen, der - nach 71 schwarzen Sprintern - die Zehn-Sekunden-Schallmauer geknackt hat, ist eben doch zu schön. Weiß? Schwarz? "Für mich ist das überhaupt kein besonderer Punkt", sagt der Elektrotechnik-Student nur. "Das überlasse ich den Medien."

Und die jubeln. Zum "weißen Vogel im Königreich der Antillen" wurde er bereits ausgerufen. Auf jenen Karibikinseln haben sonst die französischen Sprintstars ihre Wurzeln. Schmal sieht Lemaitre aus. 1,89 Meter ist der Junge aus dem Savoyen-Örtchen Culoz groß, 74 Kilogramm schwer und wirkte somit im Gegensatz zum muskelbepackten Chambers eher wie ein Vögelchen. Er sei ein "ungeschliffener Diamant", sagt Franck Chevallier, der Sportdirektor des französischen Verbandes.

US-Colleges boten Lemaitre Stipendien an, doch der blieb lieber in Aix-les-Bains, "da fühle ich mich wohl". Leise statt laut, Provinz statt großer Welt. Wie er mit den großen Erwartungen umgeht? "Ich hatte doch vorher viel größeren Druck, weil alle darauf gewartet haben, dass ich unter zehn Sekunden laufe." Die Fachwelt tat dies spätestens, seit er 2009 den Juniorenweltrekord um zwei Hundertstelsekunden auf 10,04 Sekunden verbessert hatte. Der Rekordhalter vor ihm hieß: Dwain Chambers.

Doch die EM jetzt und dann die WM 2011 "sind alles nur Stationen auf dem Weg zu den Spielen in London", sagt Lemaitre. Was auch immer bis 2012 noch passiert, Dwain Chambers wird er dort nicht treffen. Das britische Olympiakomitee hat ihn auf Lebenszeit ausgeschlossen.