Im Feld regt sich Widerstand gegen die Tour-de-France-Direktion. Eine Radfahrer-Organisation könnte Abhilfe schaffen

Wanze. Am Ende seines vermaledeiten Tages war Octave Lapize außer sich. "Ihr seid Mörder, hört ihr? Eine solche Anstrengung verlangt man einem Menschen nicht ab. Ich hab die Schnauze voll", ließ er den Organisatoren der Tour de France wutschnaubend ausrichten. Gerade hatte der spätere Gesamtsieger erstmals in der Geschichte der Rundfahrt den Pyrenäenberg Tourmalet bezwingen müssen. Der Tagesabschnitt umfasste 326 Kilometer, es war der 21. Juli 1910.

Knapp 100 Jahre später werden manche Tourstarter wieder an Lapizes Worte gedacht haben, als am Dienstag die diesjährige dritte Etappe endlich zu Ende gegangen war. Bis Arenberg in Nordfrankreich führten von 213 Kilometern 13,2 über grobes Kopfsteinpflaster, doch so weit kamen erwartungsgemäß nicht alle Gestarteten.

Prominentestes Opfer zahlreicher Havarien war Mitfavorit Fränk Schleck, 30, über dessen überflüssigen dreifachen Schlüsselbeinbruch sich Saxo-Bank-Teamkollege und Freund Jens Voigt, 38, sichtlich echauffierte. Der Routinier sprach von "Rücksichtslosigkeit" und "Spielchen der Organisatoren" auf Kosten der Gesundheit der Fahrer. "Monatelang haben wir denen gesagt: 'Leute, das ist zu viel Spektakel, das ist viel zu gefährlich!' Aber haben sie auf uns gehört? Nein!", schimpfte Voigt in der ARD.

Drei Jahre lang ist der Berliner Sprecher der Vereinigung der Profiradfahrer CPA gewesen. Die Ohnmacht seines Berufsstands ist Voigt also geläufig. Macht entfalten die Profiradler allenfalls mithilfe vereinzelter Protestaktionen. Als etwa vor 14 Monaten der Spanier Pedro Horillo während des Giro d'Italia einen Abhang hinuntergestürzt und schwerst verletzt worden war, zettelten Lance Armstrong, 38, und weitere tags darauf einen Bummelstreik an als Ausdruck ihres Missfallens über die ihrer Meinung nach zu risikoreiche Streckenführung. "Wir müssen unbedingt eine vollkommen unabhängige Radfahrer-Organisation aufbauen, die unsere Interessen vertritt", forderte Armstrong damals. "Diese Organisation soll das Recht haben, sich darüber auszusprechen, ob eine Strecke sicher ist oder nicht." Passiert ist seither gleichwohl praktisch nichts.

Die meisten im Feld arrangieren sich schlussendlich mit den zusätzlichen Gefahren - Ausdruck ihrer (gefühlten) Hilflosigkeit. "Wir wussten seit sieben Monaten, dass es ein Gemetzel würde, und es wurde ein Gemetzel", sagte lakonisch der Vorjahresvierte Bradley Wiggins, 30, vom Sky-Team über den Kopfsteinpflaster-Dienstag, an dem Thor Hushovd (Cervelo) gewann, Fabian Cancellara (Saxo-Bank) das Gelbe Trikot übernahm und das Favoritenfeld kurios durcheinandergewürfelt wurde.

2,8 Millionen Franzosen schauten diesen Tagesabschnitt allein auf France2, was einem sehr guten Marktanteil von 33,1 Prozent entspricht. Christian Prudhomme werden diese Zahlen gefallen - und auch die spektakulären Bilder, die in die Wohnzimmer flimmerten. Schließlich galt die erste Rundfahrtwoche früher oft als eher langweilige Sprinterwoche.

Der Tourdirektor war ja selbst einst Fernsehsportjournalist. Vielleicht bedient er sich deshalb gern blumiger Sprache. Über die diesjährige Streckenplanung sagt Prudhomme: "Wir Organisatoren bieten bloß die Zutaten für das bestmögliche Gericht an. Für die Würze sorgen wir nicht." Dafür seien die Fahrer und ihre Teamchefs verantwortlich, sagt er und verlangt von seinen Mitarbeitern stets, ihm für die Planung des Folgejahres die schwierigsten möglichen Strecken anzutragen. Ganz nach dem Credo, das die Franzosen seit Jahrzehnten so gern zum Besten geben: "Die Tour de France ist größer als alle ihre Teilnehmer."

Der frühere Milram-Profi Alessandro Petacchi hat seinen zweiten Etappensieg bei der 97. Tour de France gefeiert. Der Italiener entschied das vierte Teilstück nach 153,5 km von Cambrai nach Reims im Massensprint vor dem Neuseeländer Julien Dean und dem Norweger Edvald Boasson Hagen für sich. Das Gelbe Trikot des Gesamt-Ersten verteidigte der Schweizer Fabian Cancellara erfolgreich. Der Zeitfahrweltmeister liegt weiter 23 Sekunden vor dem Briten Geraint Thomas und 39 vor Cadel Evans. Toursieger Alberto Contador (1:40) bleibt Gesamtneunter, Lance Armstrong (2:30) liegt weiter auf Platz 18.