Das ist die Geschichte von David Mandler. David Mandler ist nicht sein richtiger Name. Den will er nicht nennen, noch nicht. "Ich weiß nicht, ob und wie ich damit umgehen kann, wenn die Leute wissen, was mir passiert ist, die Nachbarn, die Freunde." Seine Lebensgefährtin kennt die Geschichte. Und sein Therapeut. Die Mutter, die Schwestern, sie wissen wenig bis nichts. Mandler wurde als Kind von einem Bauarbeiter missbraucht, als Jugendlicher von seinem Trainer, dem er vertraute, den er respektierte. Er schwamm und spielte Wasserball beim HSV. Es geschah in den 1960er-Jahren.

Missbrauch im Sport ist bis heute ein Tabuthema. Die Dunkelziffer sei hoch, sagt der Deutsche Olympische Sportbund. Wenige Fälle sind bekannt, wenige Täter gefasst. Mandler ist das erste Opfer, das in der Öffentlichkeit über Missbrauch im Sport spricht. Er hat sich dazu entschlossen, "weil jeder heute über Missbrauch redet, aber kaum jemand weiß, was es noch nach 45 Jahren bedeutet, als Heranwachsender dieses Schicksal erlitten zu haben".

Mandler ist 60 Jahre alt. Er lebt mit seiner Freundin in einer modernen, 80 Quadratmeter großen Wohnung im Hamburger Osten. Die Morgensonne durchflutet die hellen Räume. Er hat Tee aufgebrüht und einen Schokoladenpuffer mit Mohn gebacken. Auf dem Holztisch liegt ein Blatt Papier. Den Text hat er am Computer geschrieben. Mandler hat die Stationen seiner Leiden notiert. Und Namen. Den des Trainers, die seiner Mitspieler. "Ich möchte nichts anderes, als dass es endlich herauskommt, dass der Dämon besiegt wird", sagt er. "Wenn mein Trainer noch lebte, würde ich ihm das alles ins Gesicht sagen. Das, was er mir angetan hat. Worunter ich mein Leben lang gelitten habe. Heute könnte ich das, damals nicht. Als ich ihn Mitte der 70er-Jahre einmal zufällig in einer Kneipe traf, stockte mir der Atem. Ich brachte kein Wort heraus." Kurt S. ist tot. Er starb Ende der 1980er-Jahre.

Mandler spielte Fußball, zunächst beim SC Concordia. Ein Klassenkamerad überredete ihn, zum HSV zu wechseln. Dort stellte ihn ein Betreuer ins Tor, "weil ich ein bisschen mopsig war". Einmal kam Uwe Seeler vorbei und schoss ihm ein paar Bälle aufs Tor. "Danach habe ich mir tagelang die Hände nicht gewaschen." Mandlers Erinnerungen sind präzise. Je länger er redet, desto mehr Details fallen ihm ein.

Zu dieser Zeit fuhr S. mit seinem VW-Bus durch Hamburg, besuchte Vereine und Schulen. Der bekannte Trainer wollte beim HSV eine Wassersportabteilung aufbauen. Mandler gehörte 1964 zu den Auserwählten. Er hatte Talent. Obwohl er erst 15 war, hütete er das Wasserballtor des Herrenteams. Kurt S. war mit Lob und Tadel schnell zur Stelle. Er strich den Jungen übers Haar, klopfte ihnen auf die Schulter, klatschte ihnen auf den Po. Mandler begrabschte er. Er fasste ihn an die Brust, wenn keiner es sah. "Es war ekelhaft." Mandler wehrte sich nicht.

Der Trainer erpresste ihn und nutzte seine Schwäche aus

Ansgar Dickow ist ein Hamburger Nervenarzt und Therapeut. Mandler ist bei ihm mit Unterbrechungen seit mehr als 15 Jahren in Behandlung. Er hat Dickow gebeten, mit dem Abendblatt über seinen Fall zu sprechen. "Mandler", sagt Dickow, "ist ein typisches Opfer, er ist für diese Rolle prädestiniert. Er hatte in der Kindheit keine Chance, einen eigenen Willen auszubilden. Er wurde nicht ernst genommen, seine Eltern haben ihm keinen Respekt erwiesen. Er konnte nicht lernen, Nein zu sagen. Das ist sein persönliches Drama." Täter spüren so etwas.

Grabschen war der Anfang, das Einfallstor zum Missbrauch. Eines Tages nach dem Wasserballtraining nahm S. Mandler zur Seite. "Du weißt, warum", sagte S., "morgen kommst du zu mir nach Hause. Wir müssen die Sache klären." Mandler hatte geraucht, ein Klassenkamerad hatte es S. erzählt. S. drohte, Mandler aus dem HSV zu werfen, dass er ihn nie wieder auf Sportreisen mitnehmen werde und, das Schlimmste, dass er es seinem Vater erzähle. Vor dem hatte Mandler "eine Höllenangst". S. wusste das. Damit erpresste er ihn.

Kurt S., damals etwa 45 Jahre alt, unverheiratet, lebte mit seiner Mutter in einem Haus im Hamburger Stadtteil Eilbek, in der Blumenau. S.' Mutter, sagt Mandler, war eine alte, dominante Frau. In der Wohnung roch es muffig. "Der Geruch kriecht mir immer noch in die Nase", sagt Mandler. Er musste S. in den Wintergarten folgen, von dort in ein Nebenzimmer. Der Trainer setzte sich auf einen Sessel. "Du brauchst dringend eine Strafe", sagte S., "du weißt, wie dein Vater übers Rauchen denkt." Mandler musste sich vor S. hinknien. S. zog ihm die Hose runter, fing an, seinen Po zu streicheln. Plötzlich schlug er zu. Immer heftiger. "Er tobte seinen Sadismus an mir aus", sagt Mandler. Sein Gesäß färbte sich blau, Striemen zeichneten sich auf seiner Haut ab. S. ließ nicht von ihm ab. "Auf einmal spürte ich etwas Hartes, Warmes an meinem Hintern. Dann wurde es feucht."

"Ein anderes Mal forderte er mich auf, ihn mit dem Mund zu befriedigen", sagt Mandler. Seine Stimme stockt beim Erzählen. Er will weinen. Er kann es nicht. Seine Tränen sind trocken. Er schluchzt. Nach einer kurzen Pause fährt er fort: "Mir wurde übel, ich fing an zu würgen. Dann ließ er von mir ab und sagte: 'Zieh dich an.'" David Mandler ging, aber er musste wiederkommen, noch fünf-, sechsmal. Irgendwann fand er die Kraft, den HSV zu verlassen. Anvertrauen mochte er sich niemandem. Der Grund lag acht Jahre zurück. David war sieben. Er spielte auf einer Baustelle. Ein Arbeiter lockte den Jungen in einen Keller, "ich zeig dir mal was", verging sich an ihm, indem er ihn mit den Fingern penetrierte. Mandler schrie, und seine Schreie wurden gehört. Der Arbeiter ließ von ihm ab. Mandler rannte nach Hause, erzählte alles. Der Mutter fiel der Gartenschlauch aus der Hand, der Vater, ein kräftiger Mann, stürmte los, schnappte sich den Bauarbeiter, schlug ihn halb tot. Ein halbes Jahr später stand der Kinderschänder vor Gericht. David Mandler musste aussagen. Er verstand nicht, worum es in dem Prozess ging. Niemand hatte mit ihm geredet, kein Psychologe ihn betreut. "Ich dachte, ich habe das alles verursacht, ich sei angeklagt. Ich fühlte mich schuldig."

In der Familie wurde nie über das Geschehen geredet. Sein Vater ließ ihn spüren, dass er seinen Sohn für einen Versager hielt. "Mein Vater saß im Zweiten Weltkrieg bei den Nazis im Konzentrationslager. Er hat die jahrelangen Peinigungen physisch überlebt, seelisch war er ein gebrochener Mann. Alles, was er in seinem Leben erreichen wollte, hat er in mich projiziert. Ich konnte ihm kaum etwas recht machen. Wenn er sich über irgendwas ärgerte, schrie er mich an. Er schlug mich oft. Und einmal in Rage, sagte er Sätze wie: 'Wegen so einem wie dir habe ich das KZ überlebt.'" Die Mutter war schwach. Sie konnte ihm nicht helfen.

Kurt S. war Soldat im Krieg. Er hatte bei Gefechten ein Auge verloren. Ein Granatsplitter hatte ihn getroffen. S. prahlte mit seinen Kriegserlebnissen, mit Gräueltaten an Menschen und Tieren. Keiner nahm in den 1950er- und 1960er-Jahren Anstoß an solchen Erzählungen. Die, die S. kannten, schildern ihn als freundlichen, umgänglichen Mann - und fürsorglichen Trainer. "Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass er einen von uns missbraucht haben soll", sagt einer von Mandlers ehemaligen Mitspielern beim HSV. Er ist heute niedergelassener Arzt im Norden Hamburgs. Auch er möchte anonym bleiben. "S. war stets freundlich zu uns, wir konnten mit ihm reden. Er hat Reisen für uns organisiert, wir waren in Frankreich. Das ganze Team schlief in einer Turnhalle. Alles lief korrekt. S. war kein Kumpeltyp, eher autoritär, wie Trainer damals waren. Ich habe ihn auch nie als distanzlos empfunden."

Günther Quast kannte Kurt S. seit Mitte der 1960er-Jahre, war Abteilungsleiter Schwimmen beim SV Poseidon. Als Präsidiumsmitglied des Hamburger Sportbundes vertrat er bis vor wenigen Jahren die Interessen des Leistungssports. Auch Quast fiel nichts auf. "S. hatte einen ordentlichen Namen in der Schwimm- und Wasserballszene. Er galt als streng und erfolgsorientiert. Im Umgang mit Kindern und Jugendlichen haben wir nie etwas bemerkt, was mein Misstrauen oder das meiner Frau erregt hätte. Es gab auch keine Gerüchte. Sonst hätten wir etwas unternommen."

Viele Eltern zeigen nicht an, um den Kindern eine Aussage zu ersparen

Peter Unruh ist seit 17 Jahren Bildungsreferent der Hamburger Sportjugend (HSJ). Das Thema Missbrauch geht die HSJ offensiv an. "Wir sprechen darüber bei Fortbildungen für Trainer und Übungsleiter. Wir laden zu unseren Seminaren Opferorganisationen wie Zündfunke oder den Weißen Ring ein. Wir wollen sensibilisieren. Unsere Botschaft lautet: Seid wachsam! Haben wir einen Verdacht, organisieren wir professionelle Hilfe." Aus den vergangenen 20 Jahren, sagt Unruh, kenne er nur drei Fälle von Missbrauch in Hamburger Sportvereinen. Einem Täter wurde der Prozess außerhalb Hamburgs gemacht, weil er sich auch anderswo an Schutzbefohlenen vergangen hatte. Unruh: "Wie viele Fälle es tatsächlich gibt, darüber existiert keine Statistik. Wenn in den Vereinen etwas passiert, erfahren wir es meistens nicht. Das wird vor Ort geregelt. Viele Eltern verzichten auf Strafanzeigen, um ihren Kindern quälende Aussagen vor Gericht zu ersparen." Damit beginnt das Dilemma. Lizenzen können den Tätern nicht grundlos entzogen werden. "Liegt keine Strafanzeige vor, fehlt meistens die Handhabe", sagt Unruh.

Dass der Sport ein ideales Feld für Täter ist, durch seine Körperlichkeit, seine Nähe zwischen Trainern, Kindern und Jugendlichen, mahnt zur Vorsicht, nicht aber zur Hysterie. Jürgen Funke-Wieneke, Professor für Bewegungswissenschaften an der Universität Hamburg, sagt: "Es gibt Dinge, auf die Eltern achten sollten. Ihr Kind muss ihnen alles ohne Vorbehalte erzählen können und wollen, was im Training passiert. Wichtig ist: Erlaubt der Trainer, dass die Eltern dabei sind, ist im Verein alles öffentlich und zugänglich? Sind diese Punkte erfüllt, können Eltern unbesorgt sein. Anderenfalls sollten sie Fragen stellen. Erhalten sie keine befriedigenden Antworten, empfehle ich, den Klub zu wechseln."

Für David Mandler kommen diese Ratschläge zu spät. Auch er stellt Fragen, andere aber: "Was wäre aus mir geworden, was aus meinen vielen Talenten, wenn ich nicht missbraucht worden wäre? Was wäre aus all den anderen geworden, die missbraucht worden sind? Was hat diese Gesellschaft an Potenzial verloren, wie hoch ist der ökonomische Schaden, weil ältere Männer ihre perversen Triebe ausgelebt haben? Das Schlimme daran ist, die Täter konnten lange sicher sein, nicht verraten zu werden, weil ihre traumatisierten Opfer psychisch unfähig waren, zu reden."

Mandler schaffte auf dem zweiten Bildungsweg die Hochschulreife, hatte Erfolg in seinem Beruf. Aber er kam nie zur Ruhe. "Ich war ein Getriebener." Er trank, viel, oft zu viel. Zweimal versuchte er sich das Leben zu nehmen. "Ich hasste mich und meinen Körper. Niemand durfte mich an Brust oder Bauch fassen, kein Mann, keine Frau." Es dauerte fast 30 Jahre, bis er sich einem Psychotherapeuten anvertraute. "Als er zu mir kam", sagt der Arzt Dickow, "war ihm der Missbrauch als wesentliche Ursache seiner Krisen nicht bewusst. Er hatte das Erlebte verdrängt."

Nach den Gesprächen mit dem Abendblatt wurde Mandler klar, "dass meine Geschichte kein Happy End haben wird. Dass ich weiter meine Trauer abarbeiten muss, wahrscheinlich bis zum Ende meiner Tage." Fortan schlief er schlecht, schrieb nachts Mails, las im Internet ungezählte Artikel über Missbrauch. Sie machten ihn nur aggressiver. Nach sechs Jahren Pause begab sich Mandler vor Kurzem wieder bei Dickow in Therapie. "Was ihm jetzt deutlich geworden ist", sagt der Arzt, "ihm fehlt eine Entschuldigung."

Der HSV hat den ersten Schritt gemacht. "Das ist eine tragische Geschichte, von der wir nichts wussten", sagt Vorstand Oliver Scheel, "wir möchten ihm unsere Betroffenheit und unser Mitgefühl ausdrücken. Wir würden ihm das auch gern persönlich sagen." David Mandler ist dazu noch nicht fähig. Er bittet um etwas Bedenkzeit.