Die Weltmeisterin und der Neuprofi sprechen über Boxen, Vorbilder und den Stolz, Deutscher zu sein

Hamburg. Susianna "Susi" Kentikian (22), geboren in Armenien, und Jack Culcay (24), geboren in Ecuador, gehören zu den besten deutschen Boxkämpfern. Am 24. April stehen beide wieder im Ring. Das Abendblatt bat sie im Gym der Universum Box-Promotion zu einem gemeinsamen Gespräch. Das Foto entstand bei der Premiere des Reeperbahn-Stücks "Ritze" im St.-Pauli-Theater.

Abendblatt:

Frau Kentikian, Herr Culcay, Sie gelten als Vertreter der neuen Generation von deutschen Boxern: jung, intelligent, gut aussehend. Was entgegnen Sie Menschen, die Boxen noch immer als Sport für asoziale Schläger bezeichnen?

Susi Kentikian:

Leider kenne ich diese Vorurteile auch aus eigener Erfahrung. Solchen Menschen kann man meist nichts entgegnen, außer dem Rat, doch einmal Boxer kennen zu lernen und sich dann erst ein Urteil zu bilden.

Jack Culcay:

Ich würde solche Menschen bitten, mal mit uns zu trainieren und uns erst danach zu beurteilen.

Ist der Eindruck des Boxers als Schläger grundsätzlich falsch? Auch im Hamburger Universum-Stall, dem Sie beide angehören, gibt es Sportler, die wegen Körperverletzung belangt wurden.

Kentikian:

Ja, aber so etwas gibt es überall in der Gesellschaft. Die meisten Boxer sind im Gegenteil sehr ruhige und zurückhaltende Menschen - außerhalb des Rings.

Muss ein Boxer von Natur aus das Kämpfer-Gen in sich tragen, um im Ring erfolgreich zu sein?

Culcay:

Ja, das muss in einem drin sein, sonst schafft man es nicht nach ganz oben.

Kentikian:

Als ich zum Boxen kam, konnte ich nur kämpfen. Da war nichts mit Technik. Ich hatte nur meinen puren Willen, es im Ring zu schaffen.

Wer hat Ihnen dies vererbt?

Culcay:

Mein Vater, ganz klar. Er hat sich auch alles, was er erreicht hat, hart erkämpft.

Kentikian:

Bei mir war es auch mein Vater. Eigentlich haben wir aber alle dieses Kämpfer-Gen in der Familie.

Bei Ihnen, Frau Kentikian, war Kampf immer ein zentrales Motiv. Als Flüchtlingskind mussten Sie sich auch im Alltag immer durchkämpfen. Was war bei Ihnen der Antrieb, Herr Culcay?

Culcay:

Ich war immer der Kleinste in der Klasse. Das Boxen hat mir Selbstvertrauen gegeben, ich wurde viel mehr respektiert.

Kommt man als Profiboxer nicht häufig in Versuchung, seine Kraft auszutesten, auch weil man von Außenstehenden provoziert wird?

Kentikian:

Man darf sich nie provozieren lassen. Darauf kommt es an. Ich hatte glücklicherweise noch nie eine Situation, in der man mich herausgefordert hätte. Aber ich denke, ich könnte dann auch cool bleiben und weggehen.

Provokationen sind eher männertypisch. Warum schaffen es manche Ihrer Kollegen nicht, dem Ärger aus dem Weg zu gehen?

Culcay:

Das will ich nicht beurteilen. Ich weiß nur, dass ich solche Situationen kenne, wo einem in der Disco ein Betrunkener dumm kommt. Aber als Profiboxer darf man sich einfach nicht hinreißen lassen, den dann anzugreifen.

In der Öffentlichkeit zu stehen, ein Vorbild zu sein, das alles fällt Ihnen demnach nicht schwer?

Kentikian:

Nein, ich genieße es sogar. Es ist doch toll, dass man immer wieder spürt, dass es viele Mädchen und auch Frauen gibt, die mir nacheifern. Das ist zwar auch eine Verantwortung, aber mir macht das Spaß.

Culcay:

Das geht mir genauso. Ich trainiere an unserer Boxschule in Darmstadt viele Kinder, und das ist mir sehr wichtig, denen etwas von dem beizubringen, was ich wichtig finde.

Hatten Sie selbst früher Vorbilder? Es heißt, Sie beide seien von Mike Tyson inspiriert worden.

Culcay:

Sportlich auf jeden Fall. Er war eine Maschine. Ich hatte viele Vorbilder im Sport, habe versucht, von allen etwas zu lernen.

Kentikian:

Mein Vorbild war früher Regina Halmich. Ich habe ihre Kämpfe im TV gesehen und wollte immer so viel Erfolg haben wie sie. Dass ich das jetzt geschafft habe, kann ich immer noch nicht glauben. Mittlerweile ist mein Vorbild Manny Pacquiao. Das ist der beste Boxer der Welt, seine Kämpfe schaue ich mir alle auf Youtube an, und dazu ist er noch ein großartiger Mensch. Er singt sogar Liebeslieder.

War für Sie beide immer klar, dass Sie Boxprofi werden wollen?

Culcay:

Nein, ich wäre auch gern Fußballprofi geworden. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass Boxen das ist, was ich am besten kann. Als Jugendlicher fand ich Karate toll, aber es hat mich genervt, dass dort im Training immer nur rumgebrüllt wurde bei jedem Schlag. Ich habe es nur eine Woche ausgehalten.

Kentikian:

Ich fand Karate auch toll, habe immer die Filme mit Jean-Claude van Damme gesehen. In den war ich verliebt, habe immer den Bildschirm geküsst, wenn er zu sehen war.

Haben Sie mal überlegt, was Sie heute wären, wenn Sie nicht mit dem Boxen begonnen hätten?

Culcay:

Ohne Sport wäre ich 100 Kilo schwer und hätte viel Prügel eingesteckt. Ich kann mir ein Leben ohne Sport nicht vorstellen. Ich trainiere selbst im Urlaub.

Kentikian:

Ich wäre bestimmt die Oberzicke. Boxen ist für mich ein Ventil, es macht mich ausgeglichener. Obwohl ich gestehen muss, dass ich auch mal einen Monat ohne Boxen auskomme.

Culcay:

Einen Monat? Du bist echt hart. Das würde ich niemals schaffen.

Kentikian:

Doch, das tut dem Kopf sehr gut. Ich habe dann Tennis gespielt oder Fitness gemacht. Aber ich gebe zu, dass ich nach vier Wochen Entzugserscheinungen hatte und vor dem Spiegel Kombinationen geübt habe, um zu prüfen, ob es noch geht.

Culcay:

Ich habe mal zwei Wochen nicht geboxt, da hatte ich schon Angst, alles verlernt zu haben.

Als Profisportler ist Ihr Körper das wichtigste Kapital. Gerade im Boxen, wo das Körperliche sehr überbetont ist, spielt Körperkult eine große Rolle. Wie wichtig ist Ihr Aussehen für Sie?

Culcay:

Körperkult interessiert mich nicht. Ich schminke mich nicht, aber natürlich achte ich auf meinen Körper. Gesunde Ernährung, kein Alkohol, kein Nikotin, das ist selbstverständlich.

Kentikian:

Ich gebe zu, dass es mir wichtig ist, wie ich aussehe. Die Leute gucken ja die Kämpfe eher, wenn man gut aussieht.

Culcay:

Das ist bei Frauen tatsächlich viel wichtiger als bei Männern.

Kentikian:

Bei Universum gab es mal eine Frau, Michele Aboro, die hat geboxt wie ein Mann, sah aber auch so aus. Das wollte niemand sehen, sie hat keine große Karriere gemacht.

Frau Kentikian, Sie sind das neue Werbe-Gesicht der Milchschnitte. Boxt jetzt auch die Angst mit, verletzt zu werden und sich sein Aussehen und den Werbevertrag zu ruinieren?

Kentikian:

Natürlich hat man Angst vor Verletzungen oder Krankheiten. Aber wenn ich im Ring stehe, ist die Angst weg. Sonst ginge das alles doch gar nicht. Natürlich war mein Gesicht für den Vertrag wichtig, aber die haben mich ein halbes Jahr beobachtet und alles angeschaut: wie ich rede, wie ich mich bewege, was ich tue. Das Gesamtpaket hat dann überzeugt.

Culcay:

Bei der WM in Mailand im vergangenen September habe ich einen Schlag auf den Bizeps bekommen. Der war danach richtig verbeult, so dass ich dachte, das bleibt für immer so. Da hatte ich zum ersten Mal richtig Angst um meinen Körper. Aber im Ring darf man keine Angst haben.

Sind Sie gläubig? Hilft Ihnen der Glaube, um sich stark genug für jede Herausforderung zu fühlen?

Culcay:

Ich bin ein gläubiger Christ, gehöre der Glaubensrichtung der Mormonen an. Ich darf drei Frauen haben, das ist das Gute. Aber im Ernst: Ich erbitte keine Hilfe, bete nicht und gehe auch nicht in die Kirche.

Kentikian:

Ich bin auch Christin und glaube an Gott, aber ich bin ehrlich gesagt verwirrt von den vielen Religionen, die sich alle als die richtige bezeichnen. Ich würde mir wünschen, die wahre Religion zu finden, aber ich weiß nicht, wie das gehen soll. Deshalb spielt Religion keine große Rolle für mich.

Und wie ist es mit Aberglauben?

Kentikian:

Oh, dafür bin ich leider sehr empfänglich. Ich lese Horoskope, obwohl mein Bruder immer sagt, das sei eine Sünde. Und wenn ich eine schwarze Katze sehe, fahre ich eher den ganzen Weg zurück als an ihr vorbei.

Culcay:

Ich bin eigentlich gar nicht abergläubisch. Aber ich war vor vier Jahren mal auf einem Turnier und habe mir mit Alexander Powernow das Zimmer geteilt. Abends habe ich mal gepfiffen, und da ist er richtig böse geworden und hat es mir verboten. Pfeifen, hat er gesagt, bringe Unglück. Ich habe es ihm zuliebe dann gelassen, aber nicht ernst genommen. Am nächsten Tag habe ich einen Kampf durch Punktrichterentscheid verloren, den ich eigentlich gewonnen hatte. Seitdem pfeife ich nicht mehr.

Ist es für Sie wichtig, Ihrem Gegner gegenüber Gefühle zu haben? Hilft Hass, um besser zu kämpfen?

Kentikian:

Hass hilft nie. Natürlich gibt es Gegnerinnen, die mich durch ihre Art nerven. Aber wenn da im Vorfeld eine ist, die Sprüche klopft, dann motiviert mich das eher. Ich freue mich, dass da eine ist, die auch wirklich kämpfen will.

Culcay:

Gefühle spielen bei mir gar keine Rolle. Ich boxe ja auch gegen meinen Bruder, da sind wir anders als die Klitschkos. Jeder Gegner im Ring ist einer, der mich schlagen und mir etwas wegnehmen will. Dagegen wehre ich mich. Das ist Sport, mehr ist es nicht.

Sie beide sind Deutsche mit Migrationshintergrund. Was bedeutet es für Sie, wenn Sie Deutschland repräsentieren?

Culcay:

Sehr viel. Wenn die Hymne gespielt wird, fühle ich mich schon stolz, es geschafft zu haben, mein Land vertreten zu dürfen. Da habe ich immer einen Kloß im Hals.

Kentikian:

Das geht mir genauso.

Gibt es typisch deutsche Eigenschaften, die Sie an sich erkennen können?

Culcay:

In puncto Disziplin und Pünktlichkeit bin ich ein typischer Deutscher. Bei der Bundeswehr wollten sie mich gar nicht gehen lassen, weil ich eine Art Mustersoldat war.

Kentikian:

Bei mir sind es auch Disziplin und Pünktlichkeit, ich mag Zuspätkommen gar nicht. Und ich esse sehr gern Kartoffeln.

Und welche typisch deutsche Eigenschaft mögen Sie gar nicht?

Culcay:

Wir Deutsche sind manchmal zu steif und zu verbissen. Ein wenig mehr Lockerheit wäre oftmals schön. Aber ich glaube, das liegt oft auch am Wetter.

Kentikian:

Mich stört, dass viele hier alles als normal ansehen und sich über alles beklagen, obwohl es ihnen gut geht. Dieser Neid, den mag ich nicht. Aber ich störe mich auch nicht daran, weil Neid nicht wichtig ist, wenn man weiß, dass man nichts geschenkt bekommen hat.

Susi Kentikian: Im Alter von fünf Jahren verließ Susianna ("Susi") Kentikian ihre armenische Heimat. Seit 1996 lebt sie in Deutschland, mit zwölf Jahren begann sie zu boxen. 2005 startete sie beim Hamburger Stall Spotlight Boxing ihre Profikarriere. 2007 gewann die Fliegengewichtlerin die WM-Titel der WBA und WIBF, 2009 kam der Gürtel der WBO hinzu. Am 24. April verteidigt Kentikian (26 Kämpfe, 26 Siege) ihre Titel in der Sporthalle Hamburg gegen Nadia Raoui aus Herne.

Jack Culcay: Im Alter von fünf Jahren siedelte Jack Culcay-Keth, Sohn eines Ecuadorianers und einer deutschen Mutter, aus Ecuador nach Deutschland über. Auch er begann als Zwölfjähriger mit dem Boxen. Als Amateur wurde er 2009 in Mailand Weltmeister im Weltergewicht. Am 11. November 2009 unterschrieb er für sechs Jahre beim Universum-Stall. Am 24. April trifft er in seinem dritten Profikampf in der Sporthalle Hamburg auf den Brasilianer Isak Tavares.