Polens Trainer Bogdan Wenta traut dem Tabellenführer der Bundesliga einen großen Wurf zu.

Kielce. Irgendwann war der Zeitpunkt gekommen, als die Verzweiflung von Mariusz Jurasik Besitz ergriff. Es war kein guter Zeitpunkt, denn der Schlusspfiff des Champions-League-Achtelfinales gegen den HSV Hamburg war noch fern. Jurasik hatte all sein Repertoire aus eineinhalb Jahrzehnten als Spitzenhandballer ausgeschöpft, er hatte sich mutig in die Abwehr gestürzt, hatte Wackler eingestreut, Sperren gestellt und seine Mitspieler in Szene zu setzen versucht. Und als diese Bemühungen wieder einmal im Klammergriff seines Bewachers Matthias Flohr geendet waren, da offenbarte er sich in seiner Ratlosigkeit sogar seinem Gegenspieler Marcin Lijewski: "Gott, ist der Flohr gut, ich komme einfach nicht vorbei!"

Jurasik ist der Kapitän und Schlüsselspieler des polnischen Meisters KS Kielce. "Unberechenbar" nennt Flohr den 33 Jahre alten Linkshänder, und Hamburgs Sportchef Christian Fitzek weiß aus Jurasiks Jahren bei den Rhein-Neckar Löwen, "dass er an guten Tagen 14, 15 Tore werfen kann". Am Sonnabend waren es in der heimischen Hala Legionów nur fünf. Das ist ein Grund, weshalb der Bundesliga-Tabellenführer sich am Ende mit 30:24 (17:15) eine Steilvorlage gab, die er im Rückspiel am kommenden Sonnabend in der Sporthalle Hamburg nur noch abstauben muss. Trainer Martin Schwalb tat, was ein guter Trainer in einer solchen Situation tun muss: Er mahnte, dass erst Halbzeit sei. "Wir müssen die 60 Minuten in Hamburg konzentriert angehen."

Wer seine Mannschaft in Kielce und fünf Tage zuvor beim 29:25-Sieg in Flensburg erlebt hat, wird daran kaum zweifeln. Sie hat ihr Potenzial vielleicht nicht ausgeschöpft - man hat die Abwehr schon besser gesehen als in der ersten Halbzeit und den Angriff schon besser als in der zweiten. Aber der HSV hat es eben auch nicht, wie bei den knappen Siegen gegen Lemgo und Berlin, darauf ankommen lassen, seine Grenzen zu erfahren. "Lehrreich" nennt Fitzek diese Spiele im Nachhinein: "Sie haben allen klargemacht, dass man nie nachlassen darf."

Als sich Kielce das erlaubte, unmittelbar vor und nach der Halbzeit, fiel der HSV mit der Entschlossenheit eines Raubtiers über seine Beute her. Vier seiner zehn Tore warf Rechtsaußen Hans Lindberg in dieser Phase, und aus einem 16:15 (28. Minute) war flugs ein 21:15 (35.) geworden. Dass es bei dem Abstand blieb, stellte Torhüter Johannes Bitter mit insgesamt 16 Paraden sicher. In den letzten zehn Minuten durfte ihn Per Sandström ersetzen, was nicht weiter auffiel, weil auch seine Fangquote jenseits der 40 Prozent lag.

Zwei Weltklasseteams in einem zu haben, diese Qualität unterscheidet den HSV in dieser Spielzeit von den meisten seiner Gegner. "Wir haben leider nicht wie Hamburg zwei Topleute auf jeder Position", klagte Jurasik. Deshalb konnte seine Mannschaft auch nicht den frühen Ausfall des früheren Bundesliga-Kreisläufer Rastko Stojkovic kompensieren, der sich nach elf Minuten in einem Zweikampf mit Igor Vori am Sprunggelenk verletzte.

Das Missgeschick gab Kielces Trainer Bogdan Wenta immerhin die Chance, manchen jungen Spielern Einsatzzeit zu geben gegen eine Mannschaft, "die viele von uns nur bisher nur vom Fernsehen kannten". Das Viertelfinale werden seine Spieler wohl wieder nur als Zuschauer erleben können. Wenta ist zu sehr Realist, um an ein Handballwunder zu glauben, bei dem Niveau, das der Gegner habe. Der Nationalcoach traut dem HSV sogar den ganz großen Wurf zu: "Hamburg hat die große Chance, in diesem Jahr Geschichte zu schreiben."

Nimmt man das Spiel von Sonnabend, dann sollte die Europareise des HSV ins Final Four nach Köln führen. Die Mannschaft werde auf ihrem Weg dorthin nicht nachlassen, das hat Rückraummann sich und den Fans versprochen: "Wir wissen leider, wie traurig man am Ende einer Saison sein kann. Das wollen wir nicht noch mal erleben."

Tore, Kielce: Podsiadlo 7, Jurasik 5, Knudsen 3 (2 Siebenmeter), Stojkovic 2 (1), Nat 2, Rosinski 1, Kuchczynski 1, Grabarczyk 1, Krieger 1, Zoltak 1; Hamburg: Lindberg 10 (3), Duvnjak 5, Hens 4, M. Lijewski 3, Vori 3, B. Gille 1, G. Gille 1, K. Lijewski 1, Jansen 1, Flohr 1. Zuschauer: 4000 (ausverkauft). Schiedsrichter: Krstic/Ljubic (Slowenien). Zeitstrafen: 2; 3.