Vancouver. Wer jetzt stöhnt: "Schon wieder Eishockey!", der hat immer noch nicht begriffen, worum es bei diesen Winterspielen wirklich geht. Also: Viertelfinale Kanada gegen Russland, der selbst ernannte Goldfavorit gegen die bislang stärkste Mannschaft des Turniers. Ganz Kanada ist in Aufruhr. Die Russen machen ihnen Angst. Ein Ausscheiden käme einer nationalen Tragödie gleich, das olympische Feuer wäre erloschen. Niemand mag den Gedanken denken. "Think Big, Win Big", steht auf den Transparenten, die die Fans in der Halle hochhalten. Es ist eine Kampfansage gegen den Kleingeist. Mutig sein und hoch gewinnen. Dass es am Ende so kommen wird, sei an dieser Stelle schon mal verraten.

Gegen vier Uhr am Nachmittag, eine halbe Stunde vor dem ersten Bully, beginnen sich in Downtown Vancouver die Straßen hektisch zu leeren. Trotz des Regens harren bereits Tausende vor den riesigen Videowalls aus, in den Restaurants und Bars sind die Plätze vor den Fernsehern längst vergriffen. In einer Pizzeria ist noch ein Tisch frei. Die Lautstärkenregler der vier Flachbildschirme sind bis zum Anschlag aufgezogen. Am Tresen schreien sie vor Begeisterung bei jeder gelungen Aktion.

Plötzlich bebt das Lokal. Eric Staal ist auf dem Eis des Canada Hockey Places an drei Russen vorbeigekurvt, hat den Puck quer auf Ryan Getzlaf gepasst, der aus einem Meter zum 1:0 einnetzt. Gerade 141 Sekunden sind gespielt. Kollektives Aufatmen weht durch die Gaststube. Der imaginäre Luftzug ist körperlich zu spüren. Optimismus fühlt sich wohl so an. Einen Cesarsalat, bitte, sage ich. Large or small? Think big, antworte ich.

2:0, 3:0 - die Lage im Ristorante entspannt sich. Plötzlich wird gescherzt, mit Bier und Wein angestoßen. Menschen umarmen sich, wildfremde vermute ich, klatschen sich ab. Der Anschlusstreffer der Russen zum 1:3 wird zum Salat serviert. Das "Enjoy your meal" fällt ungewohnt kaltherzig aus. Wie gut, dass Brenden Morrow in der 19. Minute zum 4:1 nachlegt. Die Werbepause beruhigt die Nerven zusätzlich. Die Bedienung kehrt zurück - mit einem nun unendlich freundlichen Lächeln. Kanada scheint nach einem Drittel Ausnahmezustand zur Normalität zurückgekehrt.

Allein Mike Babcock blickt noch böse drein. Das tut er eigentlich immer. Babcock ist der Coach der Kanadier, und er muss sich in diesen Tagen viele Fragen stellen lassen. Seine Antwort kann er erst am Sonntagnachmittag geben. Dann steht das Endspiel an. 7:3 gewinnen die Kanadier, und mit der Schlusssirene bricht ein letztes Mal ohrenschmerzender Jubel aus. Das Schönste wäre, blickt Barkeeper Peter voraus, "wenn wir im Finale wieder die Amis hätten. Vergiss das 3:5 aus der Vorrunde, wer die Russen auf diese Weise knackt, der muss niemanden fürchten." Ein Hieb mit der flachen Hand auf meine Schulter unterstreicht die Kraft seiner Worte. Kanada ist wieder eine starke, stolze Nation. The Games can go on!