Hamburg. Jürgen Krempin hat die Situation noch gut vor Augen. Es ist der Abend des 6. August 2002, sein Schützling Ingo Schultz von der TSG Bergedorf, der deutsche Hoffnungsträger über 400 Meter, kauert auf Bahn 2 des Münchner Olympiastadions und wartet auf den Start. Wenige Meter daneben sitzt ein Fotograf, er drückt kurz auf den Auslöser, Schultz zuckt - und bekommt den Fehlstart angelastet. Im zweiten Versuch geht alles gut, Schultz gewinnt den Vorlauf und wird zwei Tage später Europameister.

Acht Jahre später "wäre ein solches Missgeschick tödlich", weiß Krempin. Seit 1. Januar gilt in der Leichtathletik außer im Mehrkampf: null Toleranz bei Fehlstarts. Wer zu früh aus den Blöcken kommt, hat schon verloren, bevor es losgeht - er wird disqualifiziert. Bisher drohte das erst im Wiederholungsfall, pro Lauf wurde insgesamt ein Fehlstart geduldet. Geschuldet ist die Regelverschärfung dem Fernsehen, das auf eine stringente Einhaltung der Zeitpläne drängt.

Was die 400-Meter-Läufer noch verschmerzen dürften, sorgt im Lager der Kurzsprinter vor den deutschen Hallenmeisterschaften am Wochenende in Karlsruhe für Nervosität. Manche empfinden die Regel als elektronische Fußfessel. "Man muss sehr viel vorsichtiger zu Werke gehen", sagt Hürdensprinter Helge Schwarzer vom HSV. Bei seinem Saisoneinstieg im Januar in Hannover wurde er prompt Opfer der neuen Bestimmungen.

Womöglich geht der Startschuss auch nach hinten los. Wenn nicht nur das Zocken, sondern auch das Zucken des Nebenmanns zum sofortigen Ausschluss führt, werden viele Athleten länger im Startblock bleiben. Drei, vier Hundertstelsekunden, schätzt Krempin, könnte die Regel etwa im Hürdensprint kosten. Schwarzer beziffert den Zeitverlust bei der Reaktionszeit sogar auf bis zu ein Zehntel. Anders sei kaum zu erklären, dass er mit seiner Saisonbestzeit von 7,66 Sekunden über 60 Meter zwar die nationale Norm für die Hallen-WM Mitte März in Doha knapp verpasst habe, in Europa aber auch nur fünf Hürdensprinter schneller waren.

In den bisherigen Meetings freilich konnte keine allgemeine Verlangsamung der Reaktionszeiten verzeichnet werden. Ein möglicher Grund ist, dass die Starter mehr Rücksicht auf die Athleten nehmen. Schon bei der WM 2009 in Berlin waren die Intervalle zwischen dem Kommando Fertig und dem Startsignal auffallend kurz und Fehlstarts entsprechend selten. "Der Starter hat jetzt eine wesentlich höhere erzieherische Aufgabe", sagt Frank O. Hamm, Vorsitzender des Bundesausschusses Wettkampforganisation und ein Befürworter der neuen Regel. So liegt es künftig auch im Ermessen des Starters, ob ein Stören oder Verzögern wie bisher als Fehlstart zu werten ist.

Sollte die Rekordjagd der neuen Regel zum Opfer fallen, dürfte auch das Fernsehen bald auf eine Umkehr dringen. Schwarzer plädiert sogar für eine elektronisch gesteuerte Standardisierung des Startsignals: "Das würde es etwas berechenbarer machen." Einstweilen muss er sich mit der neuen Regel arrangieren. Ob sie sich bewährt, bleibt abzuwarten. Bis dahin gilt am Start Schwarzers Motto: Cool bleiben!