Vancouver. 86 Olympiaentscheidungen stehen in den 16 Tagen von Vancouver an. Die Kanadier und ihre Gäste aus aller Welt haben jetzt eine weitere entdeckt: warten. Was gewöhnlich als nervtötend und zeitraubend empfunden wird, gilt in Vancouver momentan als hipp. Es scheint offenbar nichts Schöneres zu geben, als sich mit einer Spitzengeschwindigkeit von 100 Metern pro Stunde fortzubewegen. Olympia, dieses atemlose Fest des "Schneller, Höher, Stärker", hat die Langsamkeit entdeckt. Die Sonne strahlt dazu.

Absolute Nummer eins ist die Seilbahn auf dem Robson Square. In 20 Metern Höhe können sich die Besucher auf einem Stahlrohrturm mit einem Karabinerhaken in ein Stahlseil einklinken und über den Platz gleiten. Die Schussfahrt dauert etwa 30 Sekunden und wird meist von wildem Geschrei begleitet. Bis zu acht Stunden muss man derzeit auf dieses kurze Vergnügen warten, doch niemandem wird die Zeit zu lang. "Ich habe neue Freunde gewonnen, mit drei Kanadiern habe ich die Adressen ausgetauscht. Wir wollen uns gegenseitig besuchen kommen", berichtet ein Schwede, der für den Half-Minute-Trip seine Eintrittskarte für ein Eishockeyspiel seiner Nationalmannschaft verfallen ließ. "Ich hatte keine Wahl", sagt Ole, "ich stand schon fünfeinhalb Stunden an und der Aufgang zum Turm war in Sicht. Da gebe ich nicht auf."

Menschen wie Ole brauchen die Olympischen Spiele nicht, aber die Olympischen Spiele brauchen viele dieser Oles, die in den vergangenen Tagen Vancouver zur Party-Metropole der Welt gemacht und Olympia einen neuen Sound gegeben haben. Was hier Downtown 24 Stunden lang abgeht, hat inzwischen Tausende landauf, landab animiert, sich noch kurzfristig zur "Perle am Pazifik" aufzumachen. Das Volk feiert und feiert dabei vor allem sich. In einer Welt, die immer anonymer wird, immer technischer und komplizierter, hat das Bedürfnis nach Gemeinsamkeit schlagartig zugenommen. Es waren schließlich die Fan-Feste bei der Fußball-WM 2006 in Deutschland, die dieses Sportereignis in der Wahrnehmung der erstaunten Welt zu einem besonderen machten.

Das German-Fan-Fest haben die Thüringer nach Vancouver exportiert. Deren Zelt ist immer rammelvoll, und weil die Attraktivität nach Wartezeit gemessen wird, sind vier Stunden Schlangestehen schon ein Wert der beginnenden Spitzenklasse. Die Russen, die bei den olympischen Wettbewerben noch nicht die Erfolgsspur gefunden haben, sind allerdings unschlagbar. Ihr Eis-Dome in der Nähe des olympischen Dorfes ist der Anziehungspunkt und wird von der lokalen Presse beim Unterhaltungswert auf die Poleposition gesetzt.

Das lässt für die nächsten Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi einiges erwarten. Das Wetter sollte am Schwarzen Meer mitspielen. Dort werden gerade Temperaturen um 16 Grad Celsius gemessen, zwei Grad mehr als in Vancouver. Ich plädiere deshalb noch einmal für Olympische Winterspiele in Hamburg, aber bitte im Mai. Feiern können wir auch, und das ist schließlich wichtiger als der Sport.

Thomas Bach, der Vizepräsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) und Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), hat die Entwicklung der Ereignisse in Vancouver dann auch gleich als Argument für die Münchner Olympiabewerbung für die Winterspiele 2018 genutzt. Gefeiert werde in der Stadt, Sport getrieben in den Bergen - das scheint die neue olympische Dialektik. München und Garmisch-Partenkirchen seien dabei wie Vancouver und der Skiort Whistler, meinte Bach. Das mit dem Warten müssen wir jedoch wohl üben. Geduld galt bislang nicht als hervorstechende Tugend der Deutschen.