Vancouver. Die Maschinerie kennt keine Gnade. In Bakuariani, 160 Kilometer von Georgiens Hauptstadt Tiflis, breitete gestern Dodo Karazischwili Bilder ihres Sohnes Nodar Kumaritaschwili auf dem Tisch aus. Sie trug einen schwarzen Wollpullover und ein silbern schimmerndes Kopftuch, als sie sich über die Fotos beugte, die die Erinnerungen wieder beleben.

Sie konnte stolz sein auf ihr Kind. Es hatte sich für die Olympischen Spiele qualifiziert. Dodo Karazischwili zeigt ein Foto, auf dem ihr Sohn das Visier seines Helmes hebt. Am Freitag verunglückte Nodar Kumaritaschwili (21) tödlich auf der Rodelbahn in Vancouver. Dodo Karazischwili weint. Ein Fotograf knipst.

In Kanada kämpfen da die Konkurrenten Kumaritaschwilis längst wieder um Medaillen. Nicht einmal 22 Stunden dauerte die Sperrung der Bahn zur kriminaltechnischen Untersuchung an. Der Start wurde nach unten verlegt. Danach diskutieren die Rodler den Todesfall wie eine weitere Komponente ihres Wettkampfes: Gute Starter würden begünstigt. Der Italiener Armin Zöggeler soll sich beschwert haben: mehr Strecke, mehr Tempo, mehr Medaillenchancen. Olympische Siegertypen sind Egoisten. Ihr Tunnelblick blendet Risiken aus. Für sich und für die Masse der Hinterherfahrer sowieso.

Unter Sportfunktionären verhält es sich ähnlich. Daher steht das Internationale Olympische Komitee öffentlich gerade schwer unter Druck. Es lebt von den Emotionen, die es mit seinen Spielen weltweit erzeugt. Mit Bildern von jubelnden Siegern und weinenden Verlierern hat es das olympische Spektakel zu einer schwer rentablen Ware vermarktet: In den vier Jahren der bis 2012 laufenden Olympiade kassiert es dafür 4,37 Milliarden Euro von Fernsehsendern und Sponsoren.

Rasanz und Rekorde gehören zur Liefergarantie wie Trubel und Tragödien. Nur der Tod sollte tabu sein. Doch müssen sich die Funktionäre fragen lassen, ob sie sich vom Eventualvorsatz freisprechen können, wenn sie junge Menschen auf zwei Ski mit 150 Stundenkilometern einen Berg hinunterschicken oder auf einem Schlitten eine Rodelbahn. Ob dann zwar Stürze in Kauf genommen werden können, aber nicht die schlimmste Tragik. "Die Geschwindigkeit ist das Problem - wir müssen sie reduzieren", mahnt der Chef des Weltskiverbandes FIS, Gian-Franco Kasper, "wir haben ja sogar schon Athleten gesehen, die sich verletzten, ohne zu stürzen." Das Geschäft mit der Gefahr floriert dank partieller Wahrnehmung. Schwere Havarien gehören zum Produkt Olympia, schwerste Konsequenzen möglichst nicht.

Um Geschäftspartnern Investitionsentscheidungen schmackhafter zu machen, zeigen die Herren der Ringe sich neuerdings ungewöhnlich reformfreudig: Winterspiele dürfen längst nicht mehr aus den Höchstleistungen stundenlang durch einsame Wälder hechelnder Skilangläufer bestehen, die die Kamera zuweilen gar noch aus dem Blick verliert: "Wo ist Behle?" Um eine durch Videospiele und Extremsport wie Bungee-Jumping reizüberflutete Jugend mit neuen Adrenalinschüben locken zu können, trimmen die Funktionäre Olympia auf modern: In Sportarten wie Biathlon oder Alpinski kamen Formate mit größerem Nervenkitzel hinzu - wie das Skicross gegeneinander antretender Skirennläufer in Vancouver. Seit 1984 fanden Skeleton, Freestyle, Shorttrack und Snowboard in der hippen Halfpipe Aufnahme.

Da locken junge Athleten neues Publikum, indem sie immer größere Wagnisse eingehen. Die Spiele in Vancouver zahlen dafür einen hohen Preis: Nie zuvor fehlten ähnliche viele Stars verletzt. Alpinfans vermissen ein ganzes Heer Weltklasseskifahrer wie den Kanadier John Kucera.

Der Snowboarder Kevin Pearce bangte zuletzt nach einem schweren Schädel-Hirn-Trauma um sein Leben. Er stürzte bei einem Trick, den sein amerikanischer Rivale Shaun White als "Double Cork" berühmt gemacht hat. Im "Spiegel" presste White (23) Olympias Zynismus in einen Satz: "Wir alle müssen halt im Rahmen unserer Fähigkeiten fahren."