Die Skilegende über seinen Sohn, Münchens Olympiabewerbung für 2018 und die Risiken des Carvingskis.

Hamburg. Beim ersten Anruf ist Christian Neureuther etwas kurz angebunden. Sohn Felix steht in Kranjska Gora unmittelbar vor dem Start zum ersten Lauf des Riesenslaloms. "Rufen Sie bitte später noch mal an", sagt Neureuther. Beim zweiten Anruf nimmt sich Neureuther Zeit. Felix ist gerade 39. geworden. "Er ist und bleibt eben ein Slalomspezialist", sagt der Vater, der selbst einer war.

Abendblatt:

Herr Neureuther, was ist aufregender, dem Sohn zuzuschauen oder selbst zu fahren?

Neureuther:

Das Zuschauen. Selbst dort oben zu stehen ist schon eine Nervenbelastung. Aber dort unten zu stehen und nicht eingreifen zu können, das ist extrem.

Abendblatt:

Ihr Sohn hat kürzlich gesagt, er habe sich als Mensch in den vergangenen Wochen komplett verändert. Skifahren sei für ihn nicht mehr das Wichtigste im Leben. Haben Sie diese Veränderung auch beobachtet?

Neureuther:

Wenn er das so sagt, wird es stimmen. Die Wochen über Weihnachten haben ihn, wie soll ich sagen, neu geordnet. Er hat erkannt, dass sich manche Träume nicht so schnell realisieren lassen und dass der Skisport nicht alles sein kann.

Abendblatt:

Ist das die Erklärung für die Leistungsexplosion mit dem Sieg am vergangenen Wochenende in Kitzbühel?

Neureuther:

Es ist keine Explosion. Ski fahren konnte er ja vorher schon. Aber er hat seine Einstellung insofern geändert, als er gelernt hat, mal mit einem 15. Platz zufrieden zu sein, auch wenn das in den Medien als Niederlage dargestellt wird. Ohne Vertrauen hast du in einer so schwierigen Disziplin wie dem Slalom keine Chance. Und das Vertrauen bekommst du nur, wenn du auch mal ins Ziel kommst.

Abendblatt:

Wie schwer lastete der Name Neureuther auf ihm?

Neureuther:

Diese Belastung hat man nach außen immer heruntergespielt, aber es ist klar, dass sie bei einem so sensiblen Buben, wie es der Felix ist, nicht spurlos vorbeigehen kann. Die tatsächliche Dimension haben wir erst nach Kitzbühel erkannt.

Abendblatt:

Sie und Ihre Frau Rosi Mittermaier werben für München als Austragungsort der Winterspiele 2018. Wie schätzen Sie die Chancen ein?

Neureuther:

Ich glaube daran, weil das Konzept mit der Nachhaltigkeit, der Einzigartigkeit der Standorte München, Garmisch und Berchtesgaden, aber vor allem der Umweltaspekt herausragend sind. Die Klimaproblematik ist das wichtigste Thema unserer Zeit. In München findet selbst der Bund Naturschutz keinerlei Kritikpunkte.

Abendblatt:

Was die Berge angeht, hegt der Bund Naturschutz große Bedenken.

Neureuther:

Das ist einseitig gesehen, der Eingriff in die Natur in Garmisch-Partenkirchen ist auf Grund der vorhandenen Wettkampfstätten nicht nennenswert, hinzu kommt der Ausbau des Schienen- und Straßennetzes, der zusätzlich die Bürger entlastet und den CO2-Ausstoß nachhaltig verringert. Wir haben es beim Thema CO2-Ausstoß und Erderwärmung ja mit globalen Problemen zu tun. Mein Anliegen ist, dass wir im Einklang mit den grünen Verbänden eine Vorzeigebewerbung entwickeln, wo auch das IOC erkennt, dass man nach München beruhigt Olympische Spiele vergeben kann, ohne der Umwelt zu schaden. Das hat sicher auch im IOC höchste Priorität, denn damit bleibt Olympia auch in Zukunft ein Hochglanzprodukt. Außerdem bürgen wir Deutsche nicht zuletzt mit Begeisterung unserer Menschen für Einzigartigkeit. Unsere Domäne ist ja nicht der Sommer-, sondern der Wintersport, da sind wir führende Nation.

Abendblatt:

Werden die Alpinen in Vancouver dazu beitragen können, dass es so bleibt?

Neureuther:

Es wäre sicher ein wichtiges Signal. Bei uns denken ja viele, Biathlon sei das Herzstück der Spiele. Global gesehen aber ist Ski alpin die herausragende Sportart. Turin 2006 war so gesehen enttäuschend, aber die Damen waren damals im Umbruch. Seither haben wir gesehen, was alles möglich ist. Da haben wir ein ganz breit aufgestelltes Team mit jungen Fahrerinnen und außergewöhnlichen Talenten, mit Weltmeisterinnen und Weltcupsiegerinnen. Da sind ja fast an jedem Wochenende zwei, drei Stockerlplätze drin. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn dabei nicht Medaillen herausspringen würden. Allein Maria Riesch hat Chancen auf mehrere Medaillen.

Abendblatt:

Bei den Herren sind die Aussichten vage. Ihr Sohn hat sich als Einziger qualifiziert.

Neureuther:

Wir haben eben nur eine Chance. Die ist durch Felix' Sieg in Kitzbühel zwar größer geworden. Aber Slalom ist eine Disziplin für Hasardeure, da müssen Spannung und Lockerheit in einem perfekten Verhältnis zueinander stehen. Das ist ein Nervenkampf. Gegenüber Turin hat sich die Situation dennoch verbessert, seit vielen Jahren ist mit Stephan Keppler ja auch ein Abfahrer am Start.

Abendblatt:

Wurde nach den goldenen Zeiten eines Markus Wasmeier die Entwicklung verpasst?

Neureuther:

Man muss ehrlich sein: Auch Wasmeier war ein Einzelkämpfer, Frank Wörndl genauso. Das hat eine gewisse Tradition bei den Herren im Deutschen Skiverband. Wir bringen leider nur Einzelkönner durch.

Abendblatt:

Weil die richtigen Trainer fehlen?

Neureuther:

Nein, es ist ja nicht so, dass im Deutschen Skiverband nicht alles versucht wurde. Die Chefs, die Trainer sind absolute Experten. Aber die Talente brechen uns im Jugend- und Juniorenbereich weg, wo es darum geht, eine unglaubliche Härte und Geduld aufzubringen, um in die Weltspitze zu kommen. Wenn du da nicht auch ein Elternhaus mit entsprechendem Knowhow mithilft, wird es für einen Verband schwierig.

Abendblatt:

Zuletzt haben sich die schweren Verletzungen wieder gehäuft. Der Liechtensteiner Marco Büchel hat vorgeschlagen, Carvingski zu verbieten.

Neureuther:

Diese 1,65-Meter-Slalomski oder die 190 cm langen Riesenslalomski sind natürlich extrem gefährlich für Knieverletzungen, die körperliche Belastungsgrenze ist erreicht. Aber ich kann dem Felix ja nicht die 2,07-Meter-Skier seines Vaters aus den 70er-Jahren geben. Die Carver vermitteln ja durch ihre Eigenschaften und Qualität ein einmaliges Fahrgefühl, ein absoluter Kick. Der Rennfahrer selbst will ja auch keine anderen Ski. Das ist ein extremes Fahrvergnügen, ein Lustprogramm. Einen Motor kann ich drosseln, einen Reifen verkleinern. Aber ich kann nicht einfach andere Ski bauen. Weltweit müsste bis in den jüngsten Nachwuchsbereich alles neu ausgestattet und reglementiert werden. Das kann die Industrie nicht leisten. Man muss versuchen, nach und nach die Kriterien zu verändern: die Ski vielleicht etwas verlängern und die Bindungsplatten erniedrigen, mehr Wellen in die Piste einbauen, das Gelände verlangsamen. Die Frage ist: Wo kann ich den Sport zurückfahren, ohne dass er seine Faszination verliert.

Abendblatt:

Sind Sie froh, dass Felix keine Abfahrt fährt?

Neureuther:

Natürlich. Die Verletzungsgefahr ist eminent. Wenn du einen Slalom gewinnen kannst, wozu sollst du dann Abfahrt fahren?

Abendblatt:

Haben Sie Angst, wenn Ihr Sohn fährt?

Neureuther:

Im Slalom muss man das nicht. Es kann zwar immer mal etwas passieren, aber das Risiko einer schweren Verletzung ist in der Abfahrt ungleich höher.

Abendblatt:

Die Formel 1 wird immer sicherer, der Skirennsport immer gefährlicher. Sollte das nicht zu denken geben?

Neureuther:

Die Formel-1-Fahrer haben ihren Käfig drumherum. Im Skirennsport hast du nur einen Anzug, der wenige Millimeter dick ist.

Abendblatt:

Wären Sie lieber mit den heutigen technischen Möglichkeiten gefahren?

Neureuther:

Wenn ich mir Kitzbühel anschaue oder Schladming: Das sind "senkrechte gestellte" Eisflächen. Da kommt nicht einmal der Vorläufer ins Ziel, obwohl die auch gut Ski fahren können. Dass man das meistern kann, ist faszinierend. Selbst für den Damenrennsport wären derartige Bedingungen nicht zumutbar.

Abendblatt:

Und Sie?

Neureuther:

Ich hätte keine Chance, auch mit dem besten Material. Ich würde den Kurs als "Rutschkommando" durchkommen, aber das wäre keine Slalomfahrt, das wäre eher eine Besichtigung.

Abendblatt:

Fahren Sie noch viel?

Neureuther:

Sehr viel. Und immer mit dem aktuellsten Material. Das touristische Skilaufen hat vom Carvingski ja enorm profitiert. Man lernt schneller, fährt leichter, kraftsparender und sicherer. Die Verletzungszahlen sind seit 1980 um 50 Prozent zurückgegangen.