Hamburg. Magnus ist ein netter junger Mann, höflich und zuvorkommend. Konventionen, vor allem modische, nerven ihn. Schlipse verabscheut er, seine Anzüge, zwei hat er, hängen im Schrank. Im Winter läuft er Ski, auch Skispringen hat er schon versucht. Im Sommer spielt er gerne Fußball, besitzt Trikot, Hose und Stutzen des FC St. Pauli.

Magnus heißt im Lateinischen der Große. Magnus Carlsen aus Lommedalen, einem Dorf nördlich Oslos, ist der Größte. Seit dem 1. Januar führt der 19 Jahre alte Norweger die Weltrangliste im Schach an, als bisher jüngster Spieler. Von Sonnabend an muss er seine Poleposition beim Weltklasseturnier im niederländischen Wijk aan Zee verteidigen. Der indische Weltmeister Viswanathan Anand (40) und dessen russischer Vorgänger Wladimir Kramnik (34) sind zwei seiner 13 Herausforderer.

Ernsthafte Konkurrenten Carlsens seien sie auf Dauer nicht. Das glaubt Garri Kasparow (46), den viele noch für den besten Schachspieler aller Zeiten halten. Von 1985, damals 22 Jahre alt, bis zu seinem Rücktritt im März 2005 war der Russe Weltranglistenerster. Jetzt trainiert er Carlsen. Für die Veranstaltung in Wijk aan Zee bereitete er ihn im marokkanischen Marrakesch vor. Ein Luxushotel hatte das Duo eingeladen. Als Gegenleistung mussten beide simultan gegen jeweils 20 Gegner spielen. Aufwärmübungen für Schachprofis.

Die Arbeitsgemeinschaft Carlsen/Kasparow, sie wurde fast ein Jahr lang geheim gehalten, schreckt die Konkurrenz. Der neue und der alte König. Carlsen darf sich am Wissensfundus Kasparows bedienen, gegen viel Geld vermuten Insider. Zahlreiche der genialen Ideen des ehemaligen Champions warten noch nach einer Aufführung am Brett. Carlsen wird sie Zug um Zug präsentieren, fürchten seine sportlichen Widersacher. Bereits ohne Kasparows Beistand schien Carlsens Sturm an die Spitze unaufhaltsam. "Jetzt wird er das Spiel in neue Dimensionen führen", sagt Kasparow. Bescheidene Töne sind nun mal nicht seine Art.

Der phänomenale Aufstieg des schnellen Brüters aus dem nicht gerade als Schachnation bekannten Norwegen sucht nach Erklärungen. Auf die ewige Frage, wie wird man ein Genie, gibt auch Carlsens Biografie keine schlüssigen Antworten. Seine Mutter ist Lehrerin, sein Vater Ingenieur. Henrik Carlsen, bescheiden im Auftreten, gilt zudem als guter Schachamateur, in Deutschland würde er in der Dritten oder Vierten Liga spielen. Zwei von Magnus Schwestern ziehen ebenfalls begeistert die Figuren, mit gutem, aber wenig auffälligem Erfolg. Die dritte, die jüngste, zeigt kein Interesse. "Wir haben Magnus nie zu etwas gezwungen", sagt Henrik Carlsen, "wir haben nur Wert auf einen vernünftigen Schulabschluss gelegt." Der gelingt. Als Magnus zweieinhalb Jahre alt ist, fällt seinen Eltern sein Geschick beim Puzzeln auf. Ein 50-teiliges setzt er mühelos zusammen, erstes Indiz für sein später fantastisches Gedächtnis. Das rasche Erkennen und Erinnern von Mustern zeichnet auf allen Geistesgebieten die Besten aus. Mit dreieinhalb kennt Magnus alle Automarken, mit fünf alle Länder und Hauptstädte der Welt.

In diesem Alter lernt er die Schachregeln, sein erstes Turnier spielt er mit acht, ungewöhnlich spät, vergleicht man die Karrieren anderer Weltklassespieler. Dann geht alles ganz schnell. Mit 13 wird er Großmeister, als bisher drittjüngster. Mit 17 gehört er im April 2008 erstmals zu den Top Ten. Zwei Monate vor seinem 19. Geburtstag am 30. November 2009 verweist er bei seinem Turniersieg im chinesischen Nanjing den Weltranglistenzweiten Wesselin Topalow (34) mit zweieinhalb Punkten Vorsprung auf Platz zwei. Triumphe dieser Art feierten vor ihm nur Kasparow und der legendäre, 2007 verstorbene US-Amerikaner Bobby Fischer, Weltmeister von 1972 bis 1975.

Wie Fischer beeindruckt Carlsen mit der Klarheit seines Spiels. "Magnus beginnt Komplikationen nur, wenn er sie kontrollieren kann. Weitere Parallelen sind sein Kampfgeist und seine gute Endspieltechnik, der Phase der Partie, wenn nur noch wenige Steine auf dem Brett sind und höchste Präzision verlangt wird", sagt der Hamburger Großmeister Dr. Karsten Müller. Dessen Buch über die Kunst des Endspiels hat Carlsen verschlungen. Auch im unbändigen Ehrgeiz unterscheidet sich das Supertalent nicht von seinen Vorgängern. Im vergangenen November, bei der inoffiziellen Blitz-Weltmeisterschaft in Moskau, die er überlegend gewann, überschritt er sogar die Grenze des Erlaubten. Blitzpartien werden mit wenigen Minuten Bedenkzeit gespielt. Carlsen setzte seine Dame auf ein Feld, ließ sie los, als er aber seinen Fehler erkannte, zog er sie spontan auf ein anderes. Das ist verboten. Sein Gegner reklamierte. Carlsen gab die Partie mit einer Entschuldigung auf. Auch Kasparow hatte sich im Duell mit der Ungarin Judith Polgar einmal einen ähnlichen Fauxpas geleistet.

Carlsen und Kasparow - die Chemie zwischen den beiden stimmt. Nur von Politik will der junge Norweger nichts wissen, Kasparow wiederum gehört in Russland zu den führenden Oppositionellen. "Ich weiß", sagt Magnus Carlsen, "dass Garri kein Bock auf Wladimir Putin hat. Ich habe aber kein Bock auf Gespräche über Putin." Über Schach dagegen können beide stundenlang fachsimpeln. Selbst bei Turnieren sitzt Carlsen bis zum Morgengrauen am Computer, spielt und analysiert. Das hat manchmal seinen Preis. In Russland schlief er am Tag danach bei der Siegerehrung ein.