Das große Hamburger Turntalent Jennifer Kießlich wechselt, damit ihr Traum von der Nationalmannschaft bald in Erfüllung gehen kann.

Hamburg. "Dürfen wir mal an den Schwebebalken?", fragt Alexander Palnau. Brav steigen die drei Mädchen ab und schielen ehrfürchtig zu Jennifer Kießlich. Die legt beide Hände aufs Gerät, sammelt sich kurz. Dann stemmt sie ihren 1,43 Meter kleinen Körper in den Handstand, lässt ihn geschmeidig auf den Balken sinken und erhebt sich anmutig. Den Blick hat sie fest auf jenen zehn Zentimeter schmalen Holzträger gerichtet, und es scheint, als würde sie das Gewimmel der Kinder um sie herum nicht wahrnehmen. Eine gute Minute später, nach einer Serie aus Salti und Schrauben, Drehungen und Überschlägen, hat die Zwölfjährige wieder festen Boden unter den Füßen.

"Gut gemacht", lobt Palnau. Aber noch nicht gut genug. Noch drei-, viermal wird Kießlich in dieser Trainingseinheit auf ihr Lieblingsgerät steigen. Heute und morgen soll die Kür ohne Wackler über die Bühne gehen. Auf dem Kalender stehen die 1. Hamburg Gymnastics, ein hochklassiger Teamwettkampf in der Sporthalle Wandsbek. Ebendort also, wo die Siebtklässlerin des Matthias-Claudius-Gymnasiums sonst ihren Schulsportunterricht hat. Davon befreien lassen konnte sie sich nicht. Auch deshalb wird Jennifer Kießlich im Januar ihre Heimatstadt und die HT 16 verlassen und nach Mannheim ziehen.

"Die Bundestrainerin hat mir dazu geraten wegzugehen, damit ich einmal für Deutschland antreten kann", erzählt sie. Denn das ist ihr Traum: in der Nationalmannschaft zu turnen wie ihre Großmutter Christel, die sie regelmäßig zum Training fährt; es womöglich zu den Olympischen Spielen zu schaffen wie ihr erst kürzlich verstorbener Urgroßvater Willfried Lahrs, der 1936 dabei war. Dieser Ehrgeiz hat Hamburgs beste Turnerin in den Bundeskader gebracht. Und er hat sie letztlich aus der Stadt getrieben.

Leistungsturner wandeln in Hamburg auf einem schmalen Grat zwischen Schule und Training, Training und Schule. Es ist ein Balanceakt wie auf einem Schwebebalken, und früher oder später gerät man zwangsläufig aus dem Gleichgewicht. "Hier gibt es kein Umfeld für Leistungssport", klagt Palnau (42). Der Physiotherapeut und Diplomsportlehrer ist lediglich auf 400-Euro-Basis als Trainer bei der HT 16 beschäftigt, der Landesverband VTF hat im Frühjahr seine Zuwendungen zusammengestrichen. Im Leistungszentrum an der Angerstraße sind die Verhältnisse beengt. Der Anlauf für den Sprung ist zu kurz für anspruchsvolle Übungen, eine Bodenfläche gibt es gar nicht. Und mit den schulischen Terminen sind die Trainingszeiten nur schwer vereinbar. Kießlich kommt mit Mühe und Not auf 18 Stunden die Woche. "Mindestens 25 müssten es sein", sagt Palnau. Kein Wunder, dass seine Besten irgendwann den Absprung machen: Yvonne Musik ging einst nach Bergisch Gladbach, Louisa Knapp zuletzt nach Leipzig.

"Was soll man machen?", fragt Palnau achselzuckend und beobachtet Jennifer Kießlich. Sie ist gerade an den Stufenbarren gewechselt. Den Schwebebalken haben wieder die kleinen Mädchen in Beschlag genommen.