Hamburg. Würden die vier bedeutenden Weltverbände des Profiboxens einen WM-Titel fürs Sprücheklopfen vergeben, gäbe es über alle Gewichtsklassen hinweg einen Favoriten für die uneingeschränkte Regentschaft: David Haye. Der 29 Jahre alte Brite, der im März 2008 Dreifach-Champion im Cruisergewicht war und danach ins Schwergewicht aufstieg, ist ein Meister des Trashtalks und der Gralshüter der Geschmacklosigkeiten. Er liebt die Provokation, was die Fans in Deutschland wissen, seit Haye die Klitschko-Brüder Vitali und Wladimir gegen sich aufbrachte, indem er ein T-Shirt trug, das ihn mit den abgeschlagenen Köpfen der beiden Ukrainer in seinen Händen zeigt.

Der "Lohn" für derlei Widerwärtigkeit war im Juni beinahe ein Kampf mit IBF/WBO-Weltmeister Wladimir, den Haye jedoch kurzfristig wegen einer angeblichen Rückenverletzung absagte. Den Beweis, dass hinter platten Sprüchen und ekligen Shirts mehr steckt als ein Großmaul, muss der Brite deshalb nun am Sonnabend (22.15 Uhr, ARD live) in Nürnberg erbringen. Dort trifft er auf WBA-Weltmeister Nikolai Valuev aus dem Berliner Sauerland-Team. Den russischen Riesen, der mit 2,13 Metern satte 22 Zentimeter größer und mit circa 145 Kilogramm rund 90 Pfund schwerer ist, beschimpfte Haye im Vorfeld als "stinkendes Monster, das sich gefälligst den Körper rasieren soll". In der Vorbereitung habe er oft die Filme mit King Kong, Godzilla oder Frankenstein gesehen, "damit ich mich an den Kampf des Menschen gegen das Monster gewöhnen kann".

Menschen wie Moritz Klatten, die Haye kennen, können über derlei Unappetitliches lachen, weil sie wissen, dass Haye privat ein ganz anderer Mensch ist. Klatten arbeitete zwei Jahre als Fitnesstrainer mit dem Briten und sagt: "David ist ein sehr netter, zurückhaltender und niemals arroganter Mensch. Die Sprüche macht er nur, weil er glaubt, dass er besser gegen Leute kämpfen kann, die ihn hassen." Zudem ist die Provokation auch Selbsthilfe, immerhin vermarktet sich Haye in Eigenregie. Ein Engagement im Hamburger Arena-Stall scheiterte vor einigen Jahren an Hayes finanziellen Forderungen. Mit Adam Booth hat er einen Vertrauten, der als Manager und Trainer fungiert. Seine Marketing-Abteilung ist Haye selbst.

Das ist jedoch nicht der einzige Grund, warum es der gut aussehende Sportler, der bereits für Nobelmarken wie Versace und Abercrombie & Fitch modelte, trotz seines Erfolgs in England nicht zum Volkshelden geschafft hat. Haye lebt mit Ehefrau Tasha und Sohn Cassius aus steuerlichen Gründen die meiste Zeit des Jahres auf Zypern, wo er ein Haus und ein Gym besitzt. Wer in der Heimat nicht präsent ist, kann eben nicht erwarten, dass er dort eine große Lobby hat.

Auch deshalb muss Haye es wieder in Kauf nehmen, in der Heimat seines Gegners anzutreten. Wegen seiner physischen Nachteile und seiner nicht allzu stabilen Nehmerfähigkeiten geht der Mann mit den strengen Rastazöpfen in Nürnberg als Goliath in den Ring. Seine Waffe ist die enorme Schnelligkeit und die eigene Schlaghärte, mit der er 21 Kontrahenten vorzeitig ausschaltete. Wenn er auf flinken Beinen wie einst Sven Ottke auf Einzeltreffer setzt, ist ein Sieg möglich. "Es kann passieren, dass der Ring zusammenkracht, wenn Valuev schwer getroffen zu Boden fällt", sagt Haye. Ebenso gut kann es jedoch passieren, dass er als billiger Sprücheklopfer entlarvt wird. Und obwohl es dafür keinen Titel gibt, darf man gespannt sein, was Haye sich als Ausrede einfallen lässt.