An den Tag, der das Leben des Boxers Jack Culcay-Keth veränderte, erinnern ein blaues Banner und eine vergoldete Plastikbüste...

Darmstadt. Das ist wenig im Vergleich zu dem, was er geleistet hat, und viel, wenn man weiß, dass Jack Culcay-Keth nicht der Typ ist, der mit Erfolgen hausieren geht. Und deshalb ist es wohl das richtige Maß an Erinnerung für das, was der 24-Jährige als „einen Schritt auf dem Weg zu meinem Traum“ bezeichnet, viele Experten jedoch als „Meilenstein für das olympische Boxen in Deutschland“.

Am 12.September wurde der Sportsoldat in Mailand Amateur-Weltmeister im Weltergewicht, der Klasse bis 69 kg. Es war der erste WM-Titel für Deutschland seit 14 Jahren, und weil die olympischen Boxer bis dato von Jahr zu Jahr immer tiefer in den Abwärtsstrudel geraten waren, wurde Culcays Finaltriumph gegen den Russen Andrej Samkowoj zum Befreiungsschlag einer ganzen Sparte – und der 172 cm große Athlet zu einem der gefragtesten Faustkämpfer der Welt. Insidern war er zwar schon länger bekannt, immerhin hatte er 2008 in Peking an den Olympischen Spielen teilgenommen. Aber nur wer Medaillen gewinnt, macht sich für die Profiställe interessant.

Bei Culcay-Keth war es jedoch nicht nur der Fakt, dass er gewann, sondern vor allem, wie er seine Siege herausboxte, der für Aufsehen sorgte. Selbst im Finale lockte er seinen Gegner mit beidseitig hängender Deckung, zwang ihn so zum Agieren, pendelte die Schläge aus und konterte ihn ab. Sein Stil beeindruckte alle, die ihn sahen, weil er Elemente des kubanischen Feingeists mit denen der deutschen Disziplin und der osteuropäischen Entschlossenheit verbindet. Doch was im Ring nur seinen Kontrahenten Kopfschmerzen bereitete, ist seit Mailand Culcays Problem: Die Unterhändler der Profiställe wollen ihn mit allen Mitteln zum Wechsel überreden.

„Seit dem WM-Titelgewinn hat Jack Angebote von allen namhaften Promotern der Welt bekommen“, sagt Moritz Klatten (27). Der Hamburger PR-Fachmann kümmert sich als persönlicher Manager um das Wohlergehen des neuen Hoffnungsträgers. Klatten sah Culcay-Keth im Frühjahr beim Chemiepokal in Halle (Saale) kämpfen und bot ihm seine Dienste an. Seitdem arbeiten sie zusammen, und Culcay, der wegen seiner mangelhaften Englischkenntnisse die Mittlere Reife nicht schaffte, überlässt Klatten das Sondieren der Angebote. Er selbst war genervt davon, dass jeden Abend Anrufe kamen. „Ich brauche Ruhe, um so eine Entscheidung fürs Leben fällen zu können“, sagt er.

Um diese Ruhe zu finden, zieht sich Culcay-Keth so oft wie möglich dorthin zurück, wo er die Kraft für seine Karriere findet: in den Kreis der Familie, die ihm alles bedeutet. In Pfungstadt, einer Gemeinde im Landkreis Darmstadt-Dieburg, betreibt er gemeinsam mit Vater Ricardo und Bruder Michael (28) die „Boxschule Culcay“, die sich in einer 600 m⊃2; großen Halle im Hinterhof eines unscheinbaren Wohngebietes versteckt. Seit Januar 2009 haben sie diesen Raum, 116 Mitglieder im Alter von acht bis 67 Jahren trainieren hier, manchmal leitet Jack das Training. Als er Weltmeister wurde, gab es ein halbes Dutzend Neueintritte. Die 6000 Euro WM-Prämie investierte der Champion in neues Gerät. „Sponsoren haben wir nicht“, sagt Vater Culcay. Geld ist knapp, aber das war es schon immer.

Ricardo Culcay folgte seiner Exfrau Manuela Keth, die inzwischen seit zehn Jahren in den USA lebt und kaum noch Kontakt zu ihrer Familie hat, 1990 aus seiner Heimat Ecuador nach Deutschland. Jack war fünf Jahre alt, die Eingewöhnung im neuen Umfeld, das er heute selbstverständlich als „meine Heimat“ bezeichnet, fiel ihm leichter als seinen älteren Geschwistern Susana (30), Joana (29) und Michael, die damals in der Schule mit einer völlig fremden Sprache klarkommen mussten. „Für mich war das kein Problem, ich habe schnell gelernt“, erinnert Jack sich. Dass er sich als Zwölfjähriger gegen den Fußballverein und fürs Boxen entschied, hatte demnach nichts damit zu tun, dass er schon früh gelernt hatte, gegen Widerstände anzukämpfen. „Boxen war einfach mein größtes Hobby“, sagt er.

Culcay senior, in Ecuador selbst als Amateurboxer aktiv, ließ seine Kinder schon früh im Wohnzimmer am Sandsack üben. „Ich wollte, dass sie sich verteidigen können“, sagt er. Auch die Töchter boxen bis heute, die Jüngste Manuela (21) erwägt derzeit ebenfalls eine Profikarriere. Jacks starker Wille, jeden Tag besser zu werden, sei schon damals ausgeprägt gewesen. Dass er sich nun auf eine sportliche Laufbahn konzentrieren könne, habe er jedoch zu großen Teilen seinem Bruder zu verdanken.

Michael, der gemeinsam mit Jack für Hertha BSC Berlin in der Bundesliga boxt, habe früher mehr Talent gehabt. „Aber weil wir nicht viel Geld hatten, hat er lieber gearbeitet und gesagt, ich solle alles tun, um Jack zum Profi zu machen“, sagt der Vater. Wer will es ihm da verdenken, dass er versucht, seinen Jüngsten zum sofortigen Wechsel zu den Profis zu überreden, wo die hiesigen Promoter für einen potenziellen deutschen Weltmeister viel Geld bezahlen würden?

Im Grunde könnte alles ganz schnell gehen: Die deutschen Olympiaboxer haben Vorverträge mit dem Hamburger Profistall Universum; macht ein anderer Promoter ein besseres Angebot, muss er sich mit Universum einigen. Im Fall Culcay-Keth dürfte das schwierig werden. „Jack ist als deutscher Boxer mit seinem attraktiven Stil für uns natürlich sehr interessant“, sagt Dietmar Poszwa, Mitglied der Universum-Geschäftsleitung. Der Umworbene will sich dennoch alle Angebote anhören. Für ihn ist alles denkbar, ein Vertrag in den USA, ein Wechsel zu Universum, aber auch, bis Olympia 2012 in London Amateur zu bleiben, um dann möglicherweise mit der Goldmedaille in der Tasche noch bessere Karten zu haben.

Klar, sagt er, ist nur eins: „Ich werde meinen Lebensmittelpunkt in Darmstadt behalten.“ Die Gefahr, bei einer Entwurzelung zu viel der eigenen Stärke in der Heimat zurückzulassen, ist zu groß. Das Reisen – nach Berlin zu Ligakämpfen oder zum Bundesstützpunkt nach Heidelberg zum Training – ist er gewohnt. Sein Umfeld – die Familie mit der Boxschule, Freundin Judith (19) und die WG in Darmstadt – ist ihm zu wichtig, um es für eine Karriere mit ungewissem Ausgang zurückzulassen.

Bis Ende des Jahres soll alles geklärt sein. „Nicht nur ich, auch die Profiställe und der Verband brauchen Klarheit“ sagt Culcay-Keth. Für ein paar WM-Gürtel, die es bei den Profis gibt, wäre neben dem Banner, das in der Boxschule über dem Ring hängt, und der auf einem Regal neben diversen weiteren Pokalen stehenden Goldbüste ausreichend Platz. Jack Culcay-Keth muss dafür zwar wieder sein Leben verändern, sich selbst aber kann er treu bleiben. Er wird ihn bald schaffen, diesen Schritt.